Was bisher geschah… „Die Sünden der Anderen“ (Roman von Luna von Eisenhart Rothe – alle bisherigen Teile)

Ibiza Live Report Mai Luna Von Eisenhart Rothe Und Die Suenden Der Anderen

Rätselhafter Tod des Schlagersängers Bruno Berg

Der beliebte Schlagerstar Bruno Berg (35✝),Hitparadenkönig und Hauptdarsteller zahlreicher Musikfilme, ist tot. Er stürzte am vergangenen Samstag in seiner spanischen Wahlheimat, der Baleareninsel Ibiza, von einer Klippe ins Meer, wo seine Leiche am frühen Sonntagmorgen von einheimischen Fischern geborgen wurde. Berg befand sich in Begleitung seines Hundes  auf einem Spaziergang entlang der Steilküste. Die örtliche Polizei geht von einem tragischen Unfall aus.

In der Schlagerbranche wird hingegen über Selbstmord spekuliert. Wohlunterrichteten Quellen zufolge litt der Sänger aufgrund nachlassenden Publikumserfolgs unter schweren Depressionen, griff immer häufiger zu Alkohol und Drogen. Bergs Witwe entzog sich jeder Stellungnahme.

Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 1978

Prolog

Die Nacht war warm, trug schon eine Ahnung der Sommerhitze in sich, die bald über die Insel hereinbrechen würde, und sie war dunkel. Viel zu dunkel, um spazieren zu gehen, aber Anna Berg folgte dem ansteigenden Ziegenpfad durch den Pinienwald mit sicheren Schritten. Sie kannte jeden Stein auf diesem Weg, weil sie ihn allzu oft gegangen war, um zu verstehen. Damals.

Ohne sich eine Pause zu gönnen, presste sie die Handflächen gegen die Wangen und spürte den Schweißfilm, der sich auf ihrer Haut bildete. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Der Anruf, den sie am frühen Abend erhalten hatte, beschäftigte sie mehr als ihr lieb war, und so lenkte sie nun, zum ersten Mal seit vielen Jahren, ihre Schritte ganz bewusst wieder in Richtung der Steilküste.

María war ihr erst mit erschrockenen Augen am Rockzipfel gehangen, um sie von diesem Spaziergang abzuhalten, hatte sich dann jedoch kaum weiter als ein paar Schritte aus dem Schutz des Hauses herausgewagt. Lächelnd dachte Anna daran, dass die Ärmste sich in finsteren Nächten noch immer vor Barruguets und anderen einheimischen Kobolden fürchtete, von denen man ihr als Kind schaurige Geschichten erzählt haben mochte.

Der Anflug von Heiterkeit verflüchtigte sich ebenso rasch, wie er gekommen war, und schuf Raum für jene Sorgenfalten, denen Anna seit langem keinen Zugang mehr zu ihrem Gesicht gewährt hatte. Seit einem halben Menschenleben, um genau zu sein. Bis heute.

Sie hatte gerade die Nähmaschine ausgeschaltet, um den Tag mit klassischer Musik ausklingen zu lassen, als Edvard Griegs Sonate An den Frühling vom Schrillen des Telefons gestört wurde. Zerstreut nahm sie den Hörer auf, doch kaum hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung ihren Namen genannt, begann sich hinter Annas Stirn ein Karussell voller Bilder zu drehen. Bilder einer Zeit, die sie fein säuberlich aus dem Erinnerungsalbum ihres Lebens herausgetrennt hatte, als könne sie damit einen Teil ihrer Vergangenheit auslöschen. Aber nun, mit diesem Anruf aus heiterem Himmel, hatte das Mädchen seinen Besuch angekündigt. Warum? Der Weg wurde steiler. Eine kräftige Brise schwängerte die Luft mit dem Aroma von Piniennadeln, Wacholder und Mastix, und auch der Salzgeruch des Meeres ließ sich bereits erahnen. Anna blieb stehen, um Atem zu schöpfen, während sie einen Blick zurück ins Tal warf. Tagsüber sah man von hier aus auf bewaldete Hügel und Wiesen, die sich vom Winter bis weit in den Frühling hinein mit einem Teppich bunter Wildblumen schmückten. Man sah auf uralte Feigen- und Olivenbäume und die Garrigue, weite Flächen voll wildem Lavendel, Rosmarin, Thymian und den Büschen der Zistrose in ihrem zerknitterten, rosa Blütenkleid. Hier, im ländlichen Nordwesten der Insel, hatte die fortschreitende Zersiedelung, die sich wie Unkraut über Ibiza ausbreitete, noch vergleichsweise wenig Schaden angerichtet.

Nachdenklich betrachtete Anna die kleinen Lichtpunkte der wenigen, weit verstreut liegenden Anwesen im Tal, zu denen auch das ihre zählte. Der Anblick des rötlich-goldenen Scheins, der aus dem Fenster ihres Arbeitsraumes glomm, hatte etwas Tröstliches an sich. Fast meinte sie, Griegs Klavierläufe zu sich herauf wehen zu hören, bis das aus der Ferne anschwellende Brummen eines Motorrads den friedlichen Moment zerstörte.

Jetzt, da die alten Wunden aufgerissen waren, suchte Anna erstmals ganz bewusst Trost in jenen Dingen, die ihr den Mut zum Weiterleben gegeben hatten, obgleich ein Teil von ihr damals glaubte, mit Bruno gestorben zu sein. Wie Perlen auf eine Schnur reihte sie vor ihrem geistigen Auge ein Bild an das nächste und konzentrierte sich auf das Gefühl von Dankbarkeit, das in ihr aufwallte: Sie liebte ihr Heim, ein dreiundert Jahre altes Bauernhaus, das sich mit seinen weiß gekalkten Natursteinmauern und der trutzigen Architektur so harmonisch in die Landschaft einfügte, als stünde es dort seit Anbeginn der Zeit. Sie liebte das Tal mit seiner fruchtbaren roten Erde, und ebenso liebte sie das Meer, das sich – mal zärtlich und verspielt, mal aufbrausend und gewalttätig – jeden Tag in einer anderen Laune zeigte. Sie liebte den klaren, tiefblauen Himmel, das Kreischen der Möwen, die schrille Zweitonmusik der Zikaden, die Balzschreie der Pfauen. Sie liebte es, die dicksten Feigen einfach mit dem Mund vom Baum zu pflücken oder den rubinroten Saft der Granatäpfel von ihren Fingern zu lecken. Sie liebte den Jasmin, den Joan überall in ihrem Garten gepflanzt hatte, weil sie sich daran nicht satt riechen konnte, und sie liebte die frühen Abende auf ihrer Terrasse, mit der tagsüber gespeicherten Hitze der groben Steinfliesen unter ihren nackten Füßen, wo sie saß und Wein trank – Rosado, der so kalt war, dass das Glas beschlug. Sie liebte es, wenn María sie wieder einmal mit selbstgebackenem Fláo zu mästen versuchte, aus dem das Schmalz troff. Sie liebte die kleinen Dörfchen, in denen die Uhren noch langsamer zu gehen schienen als im Rest der Welt, und manchmal liebte sie sogar die Touristen, die zur Saison wie Heuschrecken über die Insel herfielen, weil sie in den Einheimischen das zutage förderten, wofür diese berühmt geworden waren – Toleranz und schlitzohrige Piraterie. O ja. Anna liebte Ibiza. Doch ganz besonders liebte sie den Teil, der ihr allein gehörte: Das Andenken an die glücklichen, verrückten, verzauberten Jahre, die sie hier mit Bruno verlebt hatte. Und mit Henri.

Beim Gedanken an Henri nahm das Erinnerungs-Karussell in ihrem Kopf erneut Fahrt auf. Eilig setzte sie ihren Weg fort. Der auffrischende Wind erfüllte die Nacht mit dem Rauschen der Pinien.

Henri Baffour. Sie sah genau vor sich, wie abgerissen und spitznasig er gewesen war, als sie ihn bei sich aufnahmen, weil er in einer Hippiekommune lebte, wo er vor lauter Zauberpilzen und LSD keine Disziplin zum Arbeiten aufbrachte. Dies änderte sich, sobald er bei Bruno und Anna einzog. Henri entpuppte sich als sensibler junger Mann, der so kreativ war, dass er kaum je Augen und Hände stillhalten konnte. Standen ihm gerade weder Zeichenblock noch Staffelei zur Verfügung, malte er seine Skizzen einfach in die Luft. Und weil ohnehin nie genügend Peseten den Weg in seine Hosentaschen fanden, bezahlte er seine Miete in Bildern, so dass sie bald eine beeindruckende Sammlung seiner Werke ihr Eigen nennen konnten.

Henri, wunderbarer Mensch, hochbegabter Maler. Wie man hörte, hatte er es nach seinem überstürzten Weggang von der Insel in Kunstkreisen zu erstaunlichem Ansehen gebracht. Vor einigen Monaten war er gestorben, ohne dass sie ihn je wiedergesehen hätte. Anna seufzte, aber weil sie so schnell ausschritt, klang es wie ein Keuchen.

Von seinem Tod hatte sie erst durch den Anruf des Pariser Galeristen erfahren, der eine Ausstellung zur Ehrung von Henri Baffours Lebenswerk plante. Der Galerist wusste um Henris künstlerische Hinterlassenschaft auf Ibiza und bat Anna um eine Leihgabe. Zunächst erschien es ihr undenkbar, seinem Wunsch zu entsprechen, doch als dann die Bilder um ein Haar dem Brand zum Opfer gefallen wären, rang sie sich den Entschluss ab, Henris frühe Arbeiten wenigstens dieses eine Mal der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit gemischten Gefühlen sah sie nun der Abholung der Gemälde entgegen.

Irgendwo hinter ihr im Unterholz brach knackend ein Ast, und das kleine Geräusch hallte in der nächtlichen Stille wieder wie ein Pistolenschuss. Vermutlich hatte sie nur ein Kaninchen aufgescheucht oder eine der seltenen Ginsterkatzen, aber Anna fuhr dennoch erschrocken herum. Ein Zweig verfing sich in ihrem Haar. Als sie sich ungestüm in die grauen Locken griff, vergaß sie auf den Weg zu achten und blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen. Auf Händen und Knien fing sie den Sturz ab, scharfkantige Steinchen bohrten sich in ihr Fleisch. Das Herz schlug ihr hart gegen die Rippen. Ein wenig mühsam erhob sie sich, schob ihre Füße tiefer in die mit Perlen bestickten Ledersandalen, klopfte sich den knöchellangen, weißen Rock ab und eilte weiter. Was sie dort oben zu finden hoffte, wusste sie nicht. Auch nach über vier Jahrzehnten würde sich die Steilküste das Geheimnis um Brunos Tod nicht entreißen lassen.

Schließlich hatte Anna ihr Ziel erreicht und trat aus dem Schutz des Waldes hinaus auf das steinige Hochplateau. Hierher war Bruno oft geflüchtet, wenn er nachdenken und sich vom Seewind den Kopf freipusten lassen wollte.

Einen zeitlosen Moment lang stand Anna nur wenige Meter von dem Abgrund entfernt, der ihr einst den Ehemann genommen hatte. An der Kante krallte sich ein windschiefer Rosmarinbusch fest, dessen Silhouette sich düster vor dem Wolken verhangenen Nachthimmel abzeichnete, doch Anna sah nur das Bild ihres verstorbenen Mannes: Den nackten Oberkörper der Sonne zugewandt saß er da, in engen Jeans mit einem Schlag so breit wie eine Kirchenglocke. Das empfindsame Gesicht auf das Meer gerichtet, verlor sich sein Blick in dunstiger Ferne.

Es war die Erinnerung an einen Bruno, den es in Wahrheit längst nicht mehr gab, als er, von Depressionen und Sucht gezeichnet, diesen Ort zum letzten Mal aufsuchte.

Anna trat an die Steilkante. Sie spürte die salzige Brise auf ihrem Gesicht und lauschte dem Donnergrollen, mit dem sich am Fuß der Klippen die Wellen brachen. Reglos starrte sie in die Tiefe, als läge dort die Antwort auf all ihre Fragen verborgen. Sie wusste, dass ihr Mann gestorben war, um für seine Sünden zu bezahlen, aber an seinen angeblichen Freitod konnte und wollte Anna bis heute nicht glauben. Bruno hätte sie niemals allein zurückgelassen! Oder doch? Die Ungewissheit schnitt ihr in die Seele wie ein Messer, dessen Klinge niemals stumpf geworden war.

Gedankenverloren zerrieb sie einen duftenden Rosmarinzweig zwischen den Fingern. Die Erinnerung an das Telefonat, an die Stimme, mit der sie schon so lange nicht mehr gerechnet hatte, ließ sie nicht los. Morgen würde sie Tessa wiedersehen.

Spät, möglicherweise zu spät, musste Anna sich nun ihrer eigenen Schuld stellen, und sie begriff, dass sie Angst hatte.

Angst vor der Wahrheit. Eine Lüge blieb eine Lüge, selbst wenn sie den besten Absichten entsprang.

Der Windstoß kam überraschend und warf sie beinahe um. Anna machte einen Satz zurück, um nicht von der Klippe geweht zu werden, als sie plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und nach vorn kippte. Sie ruderte mit den Armen, sah

wie in Zeitlupe die Felskante auf sich zukommen, aber erst als sie das Brodeln der mächtigen Gischtfontänen in der Tiefe gewahrte, begriff sie, dass sie fiel.

Ihr Schrei zerriss die Nacht und schreckte einen schlafenden Kormoran auf, der sich sogleich auf die Jagd nach einem späten Imbiss machte.

Kapitel 1.1

Der aufgekratzten Ferienlaune ihrer Mitreisenden schien die frühe Morgenstunde nichts anhaben zu können, wie Tessa Wagner missmutig feststellte. Einer Karawane gleich, schoben sich Horden von Passagieren in Freizeithemden, nabelfreien TShirts, Baumwollblüschen und Windjacken in den Bauch der Charter-Maschine, während sich über die Bordlautsprecher ein längst verstorbener Schlagerbarde auf seine Fiesta Mexicana freute. Hossa. Hossa. Tessa fühlte sich hundeelend. Um jeden Blickkontakt zu vermeiden, verglich sie zum wiederholten Mal die Sitzplatznummer auf ihrer Bordkarte mit denen der Sesselreihen. Als unmittelbar neben ihr ein Solariumgebräunter Endfünfziger seine Designertasche in das Handgepäckfach wuchtete, zog sie den Kopf ein. „Endlich geht’s in die Sonne!“, rief der Mann. Aus den Augenwinkeln sah Tessa seine Jacketkronen in ihre Richtung blitzen, womit er ihr jedoch kaum mehr als ein gezwungenes Lächeln entlockte. Auch sie konnte es kaum erwarten, der ewigen Wolkendecke über München zu entfliehen, aber sie war weiß Gott nicht in der Stimmung für heiteres Geplänkel.

Sie kämpfte sich ein paar Schritte weiter, blieb erneut stecken und wartete ergeben, bis zwei ältere Damen mit mausgrauen Pudelfrisuren sich entschieden hatten, wer von ihnen am Gang und wer in der Mitte sitzen sollte. Als sie endlich die auf ihrer Bordkarte ausgewiesene Reihe erreichte, lümmelten darin bereits zwei Teenager-Mädchen in hautengen Leggins. Sie trugen Ohrstöpsel und waren mit rhythmisch nickenden Köpfen in ihre Musik vertieft, so dassTessa mehrfach auf den Fensterplatz weisen musste, um sich bemerkbar zu machen. Während sie sich an den Mädchen vorbei schob, spürte sie, wie ihr Leinenrock und ihre dezente Bluse einer abschätzigen Musterung unterzogen wurden. Hossa, murmelte sie sarkastisch, als sie sich auf ihren Platz fallen ließ, Ibiza, ich komme.

(Teil 2 von der Juni 2023-Ausgabe)

Deprimiert sah sie hinaus auf den Münchner Flughafen und das Schmuddelwetter, das seit Wochen jedes Frühlingsgefühl im Keim erstickte. Ihr Blick verlor sich in den unzähligen Wassertropfen, die am Fenster herabperlten. Regen, nichts als Regen. Kein Wunder, dass sie sich so auf die Ferien gefreut hatte; zumindest, bis ihr Seychellenurlaub mit Richard geplatzt war. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, flog sie nun allein auf eine spanische Mittelmeerinsel fragwürdigen Rufs, um Detektiv zu spielen. Am liebsten hätte sie einfach losgeheult, aber da sie in den vergangenen sechsunddreißig Stunden bereits einen Berg Papiertaschentüchern durchweicht hatte, biss Tessa die Zähne zusammen. Sich gehen zu lassen änderte nicht das Geringste.

Plötzlich begann der Sitz vor ihr heftig zu wackeln, und eine atemlose Kleinmädchenstimme trompetete: „Ich will heute gleich an den Strand, Papa! Und dahin, wo es die leckeren Schinkenbrote gibt! Und mit Pluto spazieren gehen! Und ich hab der Mami versprochen, ihr eine Postkarte zu schicken!“

Gereizt beobachtete Tessa, wie bei jedem Hopser ein hellblondes Rattenschwänzchen über der Rückenlehne des malträtierten Sitzes aufblitzte. Warum nur? Warum musste jedes Mal im Flieger ein lästiges Kind in ihrer Nähe sitzen?

„Ja, Kathi, ja“, ertönte die Antwort des Vaters, „aber wenn du dich jetzt nicht endlich ordentlich hinsetzt und anschnallst, wird da wohl nix draus.“

„Wieso nicht?“, prompt hörte das Kind auf zu zappeln.

„Weil des Flugzeug sonst ned losfliegt“, entgegnete der Mann ernsthaft. Er sprach mit leicht bayrischem Akzent und hatte eine auffallend tiefe Stimme, in der ein unterschwelliges Lachen mitschwang: „Unser Pilot kennt die Passagierliste und weiß genau, dass man die kleine Katharina Lux festbinden muss, damit sie ned wie ein Springfloh herumhüpft.“

„So ein Quatsch, Papa.“ Das Mädchen kicherte, aber gleichzeitig konnte Tessa das Schnappen eines einrastenden Sicherheitsgurtes hören.

Verdrossen bemühte sie sich, das Geplapper des kleinen Quälgeists auszublenden und kramte in ihrer Handtasche nach dem Reiseführer für Ibiza, den sie in letzter Minute erstanden hatte. Geistesabwesend strich sie über den glänzenden Einband, den das Foto einer nahezu karibisch anmutenden Bucht zierte. Sie mochte Bücher. Vermutlich würde sie sich nie daran gewöhnen, mit ihrem Smartphone zu hantieren, um sich Informationen aus dem Internet zu holen. Geraume Zeit später, als zugunsten der Sicherheitshinweise der Fluglinie die Schlagermusik unterbrochen wurde, ertappte sich Tessa dabei, wie sie noch immer blicklos auf den Titel des Reiseführers starrte. Egal. Sie würde ohnehin kein Wort von dem aufnehmen, was darin stand, weil ihre Gedanken schon wieder um den Trümmerhaufen kreisten, der vor kurzem noch ihr Leben gewesen war. Die Szene mit Richard hatte dabei lediglich die traurige Ouvertüre dargestellt…

Kapitel 1.2

„Sag das noch mal!“

Fassungslos sah Tessa ihren Geliebten an. Ihre Hand, mit der sie gerade zärtlich nach ihm hatte greifen wollen, sank herab. Richard stand eine Armeslänge von ihr entfernt. Durch die Fenster sickerte das von einem Vorhang aus strömendem Regen verschleierte Zwielicht des späten Nachmittags und verlieh seinen Zügen eine Weichheit, die nicht real war. „Du hast mich schon richtig verstanden, Schatz“, er zerrte an seiner Krawatte, „ich muss dir leider mitteilen, dass aus unserem Urlaub vorläufig nichts wird.“

Tessa bohrte die Fingernägel in das Fleisch ihrer Handflächen, um den vertrauten Schmerz zu überlagern, den seine Worte in ihr auslösten.

Wieso tut er mir das an?, fragte sie sich und kämpfte gegen den absurden Verdacht, er wolle sie für ihre vorangegangene Niederlage bei Gericht bestrafen. Noch immer stand ihr das kalkweiße Entsetzen ihres Mandanten vor Augen, als der Richter ihm nicht nur die Kosten des Verfahrens aufbrummte, sondern zusätzlich eine unverhältnismäßig hohe Geldstrafe verhängte. Es war doch nicht meine Schuld, ich habe getan, was ich konnte!

Für einen Moment überkam Tessa das Gefühl, statt Richard ihrem Vater gegenüberzustehen, und jeder Muskel in ihrem Gesicht verkrampfte sich unter der Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten.

„Warum nicht?“ Ihre Stimme war spröde wie eine frisch verschorfte Wunde. Seit Monaten hatten sich all ihre Hoffnungen auf diese gemeinsame Reise konzentriert.

Richard trat ans Fenster. Er sah auf die Straße hinab, nahm seine schmalrandige Brille ab und massierte die steile Falte über seiner Nasenwurzel. Seine Mundwinkel wiesen nach unten, herabgezogen vom Gewicht chronischer Verbitterung. Er hatte kürzlich die Fünfzig überschritten. An diesem Tag merkte man es ihm an.

„Ich glaube, es hört auf zu regnen.“ Abwesend setzte Richard die Brille wieder auf.

Tessas Blick nagelte ihn an das Fensterkreuz. Abermals zerrte er an seiner Krawatte. Dann strich er sich über den Hinterkopf, dort, wo sein Haar bereits schütter wurde.

„Jetzt ist nun mal nicht der richtige Zeitpunkt, meiner Frau die Wahrheit über uns zu sagen“, stieß er hervor. „Anette geht es im Moment nicht gut. Ich möchte sie ungern zusätzlich belasten.“

„Ach, Anette geht es nicht gut?“ Ätzend wie Säure spritzten die Worte aus Tessas Mund. „Dann ist es natürlich vollkommen egal, wie ich mich fühle.“ Richard holte Luft, um zu einer Erwiderung anzusetzen, aber Tessas Bereitwilligkeit, sich seine Beteuerungen anzuhören, war erschöpft. Sie sprach einfach weiter, schleuderte ihm ihren Frust ins Gesicht: „Seit über zwei Jahren warte ich auf den richtigen Moment, Richard! Zwei Jahre Versteckspiel, zwei Jahre einsamer Sonntage, zwei Jahre Sehnsucht!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ich will dich nicht mehr mit ihr teilen!“

„Du weißt genau, dass Anette und ich seit geraumer Zeit getrennte Schlafzimmer haben!“, entgegnete Richard und trommelte mit den Fingerkuppen einen gereizten Marsch auf das Fensterbrett.

„Verdammt noch mal, es geht doch nicht nur darum!“ Tessa wusste, wie sehr er es hasste, wenn sie laut wurde, aber sie konnte es nicht verhindern.

Er blickte an ihr vorbei. Seine Augen fixierten einen Punkt hinter ihrem Kopf, und zum ersten Mal bemerkte sie, dass ihm selbst hier und jetzt, in der Intimität ihrer Wohnung, der nüchterne Vertreter der Rechtswissenschaften aus jedem Knopfloch drang. Sie hörte förmlich, wie er im Geiste ein Plädoyer vorbereitete, um die Tatsachen zu seinen Gunsten zu verdrehen. Aber diesmal war er zu weit gegangen. Tessa hatte ihn bereits schuldig gesprochen.

Tatsächlich verfiel Richard in den selben geölten Bariton, mit dem er für gewöhnlich vor Gericht brillierte: „Die Seychellen laufen uns doch nicht weg, mein Schatz“, schmeichelte er. „Alles, worum ich dich bitte, ist ein bisschen mehr Zeit, bis es Anette wieder besser geht. Das ist eine Frage der Rücksichtnahme.“

Tessa verschlang hinter dem Rücken so fest die Hände, dass ihre Finger knackten. Nur allzu gerne hätte sie Richard das selbstgerechte Lächeln aus dem Gesicht gekratzt! Stattdessen machte sie ein paar Schritte von ihm fort. Draußen war es indes noch dunkler geworden. Gewitterwolken türmten sich über der Stadt, und unter jäh einsetzendem Brausen stürzten neue Wassermassen vom Himmel. Das Aufzucken eines Blitzes verwandelte Richards Schattenriss für Sekundenbruchteile in das Bild des Mannes zurück, den sie liebte, und Tessa spürte, dass sie ihre Selbstbeherrschung nicht mehr lange würde aufrecht erhalten können. Als sie die Wohnungstür öffnete, wehte aus dem Treppenhaus der Geruch von Bohnerwachs und feuchtem Mauerwerk herein.

Diesmal musste sie die Stimme heben, um den anrollenden Donner zu übertönen: „Ich möchte jetzt allein sein.“

„Was soll das heißen?“ Ungläubig sah Richard sie an, „Du willst mich doch wohl nicht rauswerfen?“ Tessa suchte in seinen Augen nach einem Zeichen, dass dies nur der berühmte Sturm im Wasserglas war, dass er sich nicht so einfach wegschicken lassen würde, aber er verbarg seine Gefühle hinter einem eisigen Blick. Er gab ihr die Schuld an diesem Streit. Natürlich. „Verschwinde einfach!“, verlangte sie gepresst, und für die Dauer eines Wimpernschlags schien Richard zu versteinern. „Wie du meinst.“ Er trat an ihr vorbei. „Sieh zu, dass du dich bis morgen wieder beruhigst. In der Kanzlei kann ich solche Mätzchen nicht dulden.“

Damit ließ er sie stehen. Ohne Kuss, ohne Berührung, ohne sie noch mal anzusehen. Tessa schloss langsam die Tür hinter ihm. Die Stirn gegen das Holz gelehnt, wartete sie, bis seine Schritte verklungen waren.

„Du verdammter Dreckskerl!“, schluchzte sie, „Geh doch zum Teufel!“

Die Morgensonne, deren safrangelbes Licht jäh die Passagierkabine überflutete, holte Tessa in die Gegenwart zurück. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass die Maschine gestartet war, und nun zeigte ihr ein Blick aus dem Fenster, dass die geschlossene Wolkendecke bereits tief unter ihnen lag. Obwohl die Erinnerung an das letzte Treffen mit Richard weh tat, stellte Tessa mit einem bitteren Geschmack im Mund fest, dass sie viel darum gegeben hätte, wäre das Zerwürfnis mit ihrem Geliebten an diesem Tag ihr einziges Problem geblieben.

Als sie sich jedoch am darauffolgenden Morgen, ohnehin ihr letzter Arbeitstag vor dem Urlaub, in der Kanzlei krank gemeldet hatte, war ihr persönliches Drama bereits so weit fortgeschritten, dass Richard darin nur noch eine Nebenrolle besetzte.

Nervös spielte sie mit dem Perlmuttknopf an der Ärmelmanschette ihrer Bluse; öffnete ihn, knöpfte ihn wieder zu. Auf. Zu. Auf. Zu.

So wie ungezählte Male zuvor dachte sie darüber nach, dass alles anders gekommen wäre, wenn sie den Anruf ignoriert hätte. Wenn sie einfach nicht verfügbar gewesen wäre! Aber als kurz nach der Szene mit Richard das Telefon klingelte, hatte sich Tessa wie eine Ertrinkende darauf gestürzt, in der Hoffnung, irgendetwas oder irgendjemand möge sie davor bewahren, völlig in ihrem Kummer zu versinken. Wie hätte sie ahnen sollen, dass ein Bote Hiobs am anderen Ende der Leitung saß? 

Die beiden Mädchen auf den Nachbarsitzen waren inzwischen dazu übergegangen, sich gegenseitig kichernd die Fingernägel in Glitzer-Pink zu lackieren. In der Reihe vor ihr summte das Kind namens Katharina eine erfundene Melodie, und irgendwo weiter hinten sägte ein schlafender Mitreisender einen ganzen Wald um. Erschöpft ließ Tessa den Kopf gegen das Fenster sinken. Bei jedem Lidschlag schien feines Sandpapier über ihre Augen zu kratzen. Die trockene Luft im Flieger setzte ihr zu. Sie hatte die letzten beiden Nächte kaum geschlafen, und selbst jetzt, eingelullt vom Brummen der Triebwerke, fand sie keine Ruhe. Als wäre sie gezwungen, sich die selbe jämmerliche Seifenoper wieder und wieder anzusehen, stürmten Bilder der Ereignisse auf sie ein, durch die kaum sechsunddreißig Stunden zuvor alles zerstört worden war, an das sie je geglaubt hatte…

Kapitel 1.3

Aufgrund der kühnen, von Glas und Stahl dominierten Architektur hätte man die Klinik für ein Kongresszentrum halten können, aber die hohe Dichte an Bademänteln, Schlafanzügen und Rollstühlen erinnerte Tessa unbarmherzig daran, dass sie nicht hier war, um sich einen Vortrag anzuhören.

In ihrem Kopf hallten die Worte einer flachen Telefonstimme wieder: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater einen Unfall hatte.“

… dass Ihr Vater einen Unfall hatte. … Ihr Vater … einen Unfall…

Nach dieser Schreckensbotschaft war ihr Zerwürfnis mit Richard vorübergehend vergessen und Tessa auf das Schlimmste gefasst.

Trotz ihres überstürzten Aufbruchs, und obwohl der grellrote Doppelblitz einer Radarfalle sie darauf aufmerksam machte, dass sie über den Mittleren Ring raste wie ein Formel-Eins-Pilot, dauerte es knapp zwanzig Minuten, bis sie das Krankenhaus erreichte. Das Beweisfoto der Infrarotkamera würde später ihre Gedanken widerspiegeln, als stünden sie ihr auf die Stirn geschrieben: Konnte dieser Tag noch schlimmerwerden?

Ein neuerlicher Wolkenbruch spülte Tessa vom Parkplatz in den Haupteingang der Klinik. Bis auf die Knochen durchnässt, eilte sie zum Empfangsschalter und von dort weiter zum Fahrstuhl, wo sie mit fliegenden Fingern nach dem Knopf für das richtige Stockwerk suchte.

Als die Lifttüren beiseite glitten, hastete sie den verwaisten Gang entlang, bis eine Milchglastür ihren Lauf bremste. Fette schwarze Lettern auf dem Glas verkündeten: Intensivstation. Zutritt verboten!

Tessa drückte den Klingelknopf, und eine stämmige Frau in Schwesterntracht öffnete die Tür. Ihr farbloses Gesicht machte den Eindruck, als seien die Neonröhren über ihren Köpfen die einzige Lichtquelle, die ihr je vergönnt war.

„Ja bitte?“

Erst jetzt merkte Tessa, dass sie aus Widerwillen gegen den Krankenhausgeruch die Luft angehalten hatte. Sie zwang sich, tief durchzuatmen.

„Ich möchte zu meinem Vater“, erklärte sie, „Hartmut Wagner. Wie geht es ihm? Kann ich ihn sehen?“ Aus einer Strähne ihres dunklen Haares, das vor vielen Stunden einmal zu einem straffen Knoten frisiert gewesen war, löste sich ein Wassertropfen. Er platschte auf ihre Finger, die den Schulterriemen ihrer Handtasche umklammerten. Ohne zu antworten, führte die Schwester Tessa in einen fensterlosen Warteraum. Aseptisches Weiß und Stille überall, nur das monotone Piepen eines Herzmonitors drang zu ihnen herein.

„Ihr Vater ist schon zur Vorbereitung im OP. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, aber …“ Die Schwester hielt einen Moment inne, bevor sie ehrfurchtsvoll verkündete: „Der Herr Professor möchte sich noch persönlich mit Ihnen unterhalten.“ Sie nahm mit den Augen eine blitzschnelle Leibesvisitation an Tessa vor und wies dann auf die Reine grau bezogener Stahlrohrstühle an der Wand. „Nehmen Sie doch so lange Platz.“

Tessa blieb stehen. „Konnten Sie in der Zwischenzeit meine Mutter ausfindig machen?“

„Ja!“ Die Schwester nickte eifrig. „Sie war in Starnberg auf einer Schönheitsfarm, da wird sie bei diesem schrecklichen Wetter bestimmt noch eine ganze Weile unterwegs sein.“ Ihre Lippen spitzten sich in der Hoffnung auf ein Schwätzchen, und teilnahmsvoll ergänzte sie: „Ach, Ihre arme Frau Mama, nu’ ist bestimmt die ganze schöne Erholung futsch!“

Tessa schwieg. Sie verspürte nicht die geringste Lust, dieser Frau auf die Nase zu binden, dass sich Ellen Wagner jeden Monat für einige Tage zur Erholung auf die luxuriöse Schönheitsfarm am Starnberger See zurückzog. Ich brauche diese Zeit für mich, hatte sie ihrer Tochter einmal anvertraut, das Zusammenleben mit deinem Vater ist nicht einfach. Tessas Antwort bestand in einem stummen Hochziehen der Augenbrauen, während sie bei sich dachte, dass jene allmonatlichen Gesichtsbehandlungen, Schlammpackungen und Lomi-Lomi-Massagen wohl auf ewig der einzige selbstbestimmte Akt ihrer Mutter bleiben würden.

„Frau Wagner?“

Sie zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt den Mann, der den Raum betreten hatte. Er warf seine erdbeerblonde Mähne zurück, die in seltsamem Kontrast zu seinem weißen Mantel stand. „Professor Hoffmann.”, verkündete er knapp, “Ich bin der behandelnde Arzt.“

Die Schwester stand stramm und machte eine Miene, als wolle sie ihm den roten Teppich ausrollen.

Tessa erwiderte seinen kräftigen Händedruck. „Was ist passiert, Herr Professor?“ Sie musterte ihn unauffällig. Nichts an ihm glich den geschniegelten Halbgöttern aus den Krankenhausserien im Fernsehen. Er sah aus wie ein freundlicher Löwe.

„Ihr Vater ist auf der Wolfratshauserstraße in einer Kurve von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Er hat Frakturen an beiden Oberschenkeln erlitten.“ Mit einem ermutigenden Lächeln fügte der Arzt hinzu: „Dank des Airbags sind seine inneren Organe unversehrt.“

Eine Welle der Erleichterung ließ Tessa die Knie weich werden. Gott sei Dank, er hat sich nur die Beine gebrochen!

„Dann ist es bloß eine Routineoperation?“, ihre Frage klang wie eine Feststellung, doch Professor Hoffmann antwortete mit Bedacht: 

„Nicht ganz. Es gibt gewisse Komplikationen.“

„Was soll das heißen?“ Tessa sah ihn verständnislos an.

„Beinbrüche flicken Sie hier doch wohl jeden Tag zusammen!“ 

Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Da mögen Sie Recht haben“, bestätigte er, „vor allem zur Zeit. Bei diesem scheußlichen Wetter regnen uns die gebrochenen Knochen buchstäblich herein.“ Als er sah, wie sie die Lippen zusammen presste, besann er sich und wurde wieder ernst: „Die glatte Fraktur des linken Oberschenkels ist tatsächlich reine Routine, wenn Sie so wollen“, fuhr er fort, „aber rechtsseitig hat sich Ihr Vater einen Trümmerbruch zugezogen. Das heißt, der Knochen ist mehrfach gesplittert.“

Auf Tessas Armen stellten sich die Härchen auf. Sie schluckte.

„Was bedeutet das genau?“

„Einer der Knochensplitter hat die große Oberschenkelarterie verletzt“, erläuterte der Professor, „und die dadurch verursachte innere Blutung macht die Sache ein bisschen knifflig.“ Als er ihren bestürzten Blick sah, hob er beschwichtigend die Hände: „Sie sollten sich nicht zu sehr ängstigen, Frau Wagner. Freuen Sie sich lieber darüber, dass Ihr Herr Vater künftig zweimal im Jahr Geburtstag feiern darf.“

Dank der Zuversicht, die er ausstrahlte, gelang es ihm tatsächlich, Tessa ein wenig zu beruhigen. Er konnte jedoch nicht ahnen, dass seine wohlmeinenden Worte unwillkürlich die Erinnerung an einen weit zurück liegenden Vorfall in ihr heraufbeschworen…

Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen und der Geburtstag ihres Vaters stand bevor. Bewaffnet mit einem Arsenal aus Wachskreide und Buntstiften hatte Tessa jede freie Minute in ihrem Zimmer verbracht, um ihm ein Bild zu malen. So saß sie mit eifrig geröteten Wangen und in den Mundwinkel geklemmter Zunge über ihren Schreibtisch gebeugt, als er eines Tages hereingeplatzt kam. Obwohl sie erschrocken aufschrie:

„Nein, Vati, das darfst du noch nicht sehen!“, griff er nach dem Malblock. Ihre Enttäuschung über die verdorbene Überraschung spürte Tessa noch heute – ebenso wie den Schmerz, den ihr Vater ihr zugefügt hatte, als er das Bild achtlos beiseitelegte. Das taugt noch nichts, Tessa, hatte er gesagt, du musst lernen, dir mehr Mühe zu geben.

Hoffmanns Stimme holte sie zurück:

„Trotzdem ist es gut, dass Sie so schnell herkommen konnten, Frau Wagner“, erklärte er. „Ihr Vater hat eine sehr seltene Blutgruppe, Typ 0, Rhesusfaktor negativ, und es besteht die Möglichkeit, dass wir ihn im Verlauf der Operation mit Blutkonserven stabilisieren müssen.“ Er lächelte Tessa abermals aufmunternd zu. „Da unsere Vorräte dieses Typs begrenzt sind, muss ich Sie fragen, ob Sie im Ernstfall für eine Bluttransfusion zur Verfügung stehen würden.“ 

„Selbstverständlich!“ Sie nickte. Zaghaft erwiderte sie sein Lächeln. Alles halb so wild, beruhigte sie sich, aber das ungute Gefühl in ihrer Magengrube wollte nicht verschwinden.

Nachdem der Arzt zu ihrem Vater in den Operationssaal gerufen worden war, ließ sich Tessa endlich auf einen der Stühle sinken. Ihre Füße in den aufgeweichten Wildlederpumps waren eiskalt, und sie fröstelte unter dem klammen Seidenfutter ihres Hosenanzugs. Vermutlich sah sie genauso kaputt aus, wie sie sich fühlte. Gedankenverloren zupfte sie an dem Pflaster in ihrer Ellenbeuge herum, wo ihr die Schwester eine Blutprobe abgenommen hatte. Dabei stellte sie grimmig fest, dass sie schon wieder anfing, Richard zu vermissen. Trotz ihres Streits hätte sie sich jetzt gern an seine Brust geschmiegt, sich vom Duft seines Rasierwassers einlullen lassen und der Illusion hingegeben, ihr Geliebter würde sie vor allen Übeln dieser Welt beschützen.

Tessa kniff die Augen zusammen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Genau das war es, eine Illusion … Mehr bekam sie nicht. Wann wäre Richard je für sie da gewesen, wenn sie ihn brauchte? Nicht mal in einer Situation wie dieser durfte sie ihn anrufen, und solange seine Frau keine Ahnung hatte, dass sie viel mehr für ihn war, als nur eine Angestellte seiner Kanzlei, würde sich daran auch nichts ändern.

Wann wird er endlich den Mut aufbringen, mit Anette zu sprechen?

Wie so oft, seit sie sich auf diese Affäre mit ihrem Chef eingelassen hatte, meldeten sich in Tessa Zweifel, ob er sich jemals zu ihr bekennen würde, und sofort schüttelte sie den Kopf, als könne sie damit die Stimme in ihrem Inneren zum Verstummen bringen. Ja, ich weiß, dass du mich von Anfang an gewarnt hast, antwortete sie grimmig, als die Stimme keine Ruhe gab. Aber wenn es drauf ankommt, bist du mir auch keine Hilfe!

Sie verzog das Gesicht. Seit sie denken konnte, führte sie diese Selbstgespräche; eine Angewohnheit, die in ihrer Kindheit so ausgeprägt gewesen war, dass ihre Mutter sie zum Psychologen geschleppt hatte. Der Mann fand heraus, dass Tessa mit Hilfe imaginärer Gesprächspartner ein Gefühl innerer Leere zu kompensieren versuchte und legte ihrer Mutter nahe, über ein Geschwisterchen für sie nachzudenken. Doch obwohl ihre Tochter sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, wies Ellen den Vorschlag schroff zurück. Danach hatte Tessa begonnen, sich im Geiste mit einem Bruder zu unterhalten, den sie nie bekommen würde.

Richard hat es schließlich auch nicht leicht, verteidigte sie ihren Geliebten nun und nickte trotzig, ohne es zu merken. Immerhin stand ihm eine teure Scheidung bevor, bei der sich Anette mit nichts weniger zufrieden geben würde als seinem Skalp, wie Richard oft genug düster prophezeite. Ein Vergleich, der Tessa heimlich erheiterte, da sein Haar sich bereits erkennbar lichtete. Seufzend fragte sie sich, ob sie nicht ein letztes Mal Verständnis für ihn aufbringen sollte. Die Trennung von seiner Frau war

ganz sicher keine Sache, die er auf die leichte Schulter nehmen konnte. Zumal ja auch sein pubertierender Sohn davon betroffen sein würde.

Als das Signal des unsichtbaren Herzmonitors kurz in seinem Rhythmus stolperte, erkannte Tessa, dass dies kaum der richtige Augenblick war, um über ihr verkorkstes Verhältnis zu Männern nachzugrübeln. Schuldbewusst lenkte sie ihre Gedanken in den Operationssaal, doch bei der Vorstellung, dass ihr sonst so unbeugsamer Vater dort hilflos dem Schicksal und dem Gespenst menschlicher Fehlbarkeit ausgeliefert war, fühlte sie sich wie ein Kind, das sich verlaufen hat.

„Frau Wagner!“

Sie fuhr aus einem kurzen, unruhigen Halbschlaf hoch. Vor ihr stand die Krankenschwester und hielt ein Klemmbrett an die Brust gedrückt, von dem an einem Stück Nylonfaden ein Kugelschreiber baumelte.

„Ist was passiert?“ Tessa rieb sich die Stirn, um ihre Benommenheit loszuwerden. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte sie.

„Aber nein, Frau Wagner, machen Sie sich keine Sorgen. Bisher verläuft die OP wie aus dem Bilderbuch.“ Die Frau tätschelte ihre Schulter. „Ich bräuchte nur eine Information von ihnen.“ Instinktiv berührte Tessa das Pflaster an ihrem Arm. „Stimmt was nicht mit meiner Blutprobe?“

„Sind Sie ein Einzelkind, Frau Wagner?“

„Ja, das bin ich“, bestätigte Tessa irritiert, „warum interessiert sie das?“

„Aha.“ Ihr Gegenüber brachte das Klemmbrett in Position. „In diesem Fall wüsste ich gern, ob der Patient, Hartmut Wagner, noch lebende Geschwister hat.“ Ihr vormals vertraulicher Plauderton war professioneller Distanz gewichen, und Tessas Vorahnung verstärkte sich. Offenbar gab es sehr wohl einen Grund, sich Sorgen zu machen.

„Wären Sie so freundlich, mir zu erklären, was Sie mit Ihren Fragen bezwecken?“ Sie sprang auf. Dank ihrer Absätze überragte sie die Inquisitorin im blauen Kittel um einen halben Kopf.

„Ja, also …“ Wie einen Mundschutz streifte sich die Schwester ein Lächeln über und betastete ihr Ohrläppchen. „Es geht darum, ob … andere Verwandte existieren, die für eine Blutübertragung zur Verfügung stünden.“

„Was soll das heißen?“ Tessa spürte die sprichwörtliche kalte Hand nach ihrem Herzen greifen. Hatte ihre Blutprobe offenbart, dass sie an einer gefährlichen Krankheit litt? Rastlos begann sie, in dem beengten Warteraum auf und ab zu gehen.

Fünf Schritte zur einen Wand, fünf zurück. Die Schwester beobachtete sie mit unbewegtem Gesicht.

HIV-positiv bin ich wohl kaum, überlegte Tessa gehetzt, aber was könnte das Mikroskop sonst ans Licht gebracht haben? Hepatitis? Leukämie? Blödsinn! Ihre Gedanken überschlugen sich, aber sie vermochte sich nicht einmal daran zu erinnern, wann sie zuletzt beim Arzt gewesen war um sich durchchecken zu lassen.

Scheinbar ungerührt schwebte der Kugelschreiber über dem Klemmbrett. „Gibt es denn nun lebende Blutsverwandte oder nicht?“

„Mein Vater hat eine Schwester“, bestätigte Tessa abwesend. Der Kuli senkte sich aufs Papier. „Wie können wir die Frau erreichen?“

„Sagen Sie mir doch endlich, was los ist!“, verlangte Tessa aufgebracht. „Was haben Sie in meinem Blut gefunden?“ Die Krankenschwester strich sich die Uniform glatt und verlagerte ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere, wobei ihre Gummisohlen auf dem Linoleumboden ein leises Quietschen erzeugten. Sie kaute auf der zweifellos unangenehmen Nachricht herum wie auf einem Latexhandschuh und versuchte dann, den Schwarzen Peter an ihren Chef weiterzugeben: „Der Herr Professor wird Ihnen später gern erklären –“

„Nein!”, schnappte Tessa, „Sie erklären es mir jetzt!“

„Bitte, wenn Sie darauf bestehen…“ Die Frau fügte sich mit einem Achselzucken, sprach jedoch mit Tessas oberstem Jackenknopf, anstatt ihr in die Augen zu sehen: „Wie Professor Hoffmann bereits sagte, kann ein Patient mit Blutgruppe 0, Rhesus negativ, eine Bluttransfusion nur von einem anderen Spender des gleichen Typs empfangen. Im Labor wurde aber festgestellt, dass Sie, Frau Wagner, zum Blutgruppentyp AB, Rhesusfaktor positiv gehören.“ Sie hielt das Klemmbrett wie einen Schutzschild vor sich und klickerte mit dem Kugelschreiber. „Deshalb bräuchte ich jetzt bitte umgehend den Namen und alle bekannten Telefonnummern von besagter Schwester des Patienten.“

Als Tessa erkannte, dass keine lebensbedrohliche Krankheit bei ihr diagnostiziert worden war, wich alle Anspannung aus ihrem Körper, und sie sank auf ihren Stuhl zurück. „Ich glaube kaum, dass Ihnen das etwas nützen wird,“ antwortete sie mechanisch, „meine Tante lebt in Spanien.“ Erst als sie wieder allein war und ohne zu blinzeln in die Neonleuchten an der Decke starrte, begriff Tessa, was die Krankenschwester gesagt hatte, ohne es auszusprechen: Hartmut Wagner konnte nicht ihr leiblicher Vater sein.

Kapitel 1.4

Kaum nahten die Stewardessen mit dem Getränkewagen, begann die kleine Katharina mit ihrem Vater zu diskutieren, ob sie eine Cola trinken dürfe oder nicht. Wie erwartet durfte das Kind nicht, und Tessa, vor Müdigkeit inzwischen völlig benebelt, verdrehte genervt die Augen. Still zählte sie von Zehn rückwärts, doch das befürchtete Sirenengeheul in der Reihe vor ihr blieb aus. Stattdessen erschien am oberen Rand ihres Sichtfelds das Stupsnasengesicht eines ungefähr fünfjährigen Mädchens.

„Der Papa sagt, ich darf keine Cola haben.“ Katharinas Pinselzöpfchen fuhr durch die Luft wie ein winziger Staubwedel, als sie den Kopf schief legte und Tessa über die Kante ihrer Rückenlehne aus großen blauen Augen ansah. Neugierig fragte sie: „Was trinkst du denn?“

„Was darf es für Sie zu Trinken sein?“, erkundigte sich im selben Moment auch die Flugbegleiterin, und irritiert bat Tessa um einen Apfelsaft. Sofort verschwand das Kind hinter seinem Sitz, um seinem Vater etwas zuzuflüstern. Kurz darauf bestellte dieser Kaffee mit Milch und einer Extraportion Zucker für sich, sowie einen Apfelsaft für seine Tochter.

Nachdem sie ein paar Mal genippt hatte, stellte Tessa den Becher auf ihrem Klapptischchen ab und wollte gerade den Reiseführer aufschlagen, als über der Rückenlehne des Mittelsitzes vor ihr das Brustbild eines Mannes auftauchte.

„Da hab ich aber Glück gehabt, dass Ihnen ned nach Schnaps zumute war“, lachte er. Tessa sah kaum lange genug auf, um mehr als ein breites Grinsen, einige Sommersprossen und ein Paar unglaublich abstehender Ohren zu registrieren. Attribute, die absolut nicht zu der bemerkenswerten Bassstimme des Mannes passten. „Ja, das haben Sie wohl“, entgegnete sie knapp.

„Fliegen Sie zum ersten Mal nach Ibiza?“

„Hm.“

„Aber sicher ned zum letzten Mal!“ Unbeeindruckt von den Minusgraden, die ihm entgegenschlugen, strahlte er sie an. „Diese Insel hat eine ganz eigene Magie. Wen sie einmal packt, den lässt sie nimmer los.“ Er legte den Kopf schief wie zuvor seine Tochter, und eine straßenköterblonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. „Wenn mich mein Gefühl ned täuscht, sind Sie sehr empfänglich dafür.“ Mit diesen Worten zwinkerte er ihr zu und verschwand wieder hinter seiner Lehne. Tessa senkte den Blick auf ihr Buch, doch die letzte Bemerkung des Mannes machte sie nachdenklich.

(Teil 3 von der Juli 2023-Ausgabe)

In Wahrheit wusste sie nicht mehr über Ibiza, als sie im Lauf der Jahre in den Medien aufgeschnappt hatte, und diese Berichte waren selten positiv gewesen. Trotzdem schien irgendetwas dran zu sein an diesem Mythos, dem einst sogar ihre Tante und der berühmte Schlagersänger Bruno Berg erlegen waren.

Die geheimnisumwitterte Tante Anna… Schwester Hartmut Wagners und somit, nach dem neuesten Stand der Dinge, eben nicht ihre leibliche Tante. Tessa hatte sie nur ein einziges Mal persönlich getroffen, mit sieben oder acht Jahren, bei der Beerdigung ihres Großvaters väterlicherseits – besser gesagt bei der Beerdigung des Mannes, den sie ihr Leben lang für ihren Großvater gehalten hatte. Sie sah noch genau vor sich, wie die fremde Frau abseits von den anderen Trauergästen am Grab

stand. Das Gesicht und die blonden Locken von einem weißen, spinnwebfeinen Spitzenschleier bedeckt, konnte sie ihre Tränen dennoch nicht verbergen. Niemand sprach mit ihr, aber alle tuschelten über ihr langes, ebenfalls weißes Kleid, in dem sie wie ein Engel neben einem Schwarm Krähen wirkte. Fasziniert von dieser Unbekannten, die ihr seltsam vertraut vorkam, hatte sich Tessa plötzlich an die verstaubten Fotoalben erinnert, die ihr eines Tages beim Stöbern auf dem Dachboden in die Hände gefallen waren. Die Frau war auf vielen der Bilder zu sehen gewesen, und dennoch hatte Tessa nicht mehr über sie in Erfahrung bringen können, als dass es sich um eine Schwester ihres Vaters handelte, die im Ausland lebte. Darüber hinaus waren all ihre Fragen an einer Mauer des Schweigens abgeprallt.

Anna Berg blieb nicht einmal zum Leichenschmaus, doch während sich die Trauergesellschaft vor dem Friedhofstor zerstreute, nahm sie ihre kleine Nichte unbemerkt beiseite und förderte aus den Tiefen ihrer Ledertasche ein Geschenk für sie zutage. Die schwere Silberkette mit dem kunstvoll gearbeiteten indischen Amulett war viel zu wuchtig für eine Kinderbrust, aber Tessa fand sie wunderschön. „Ich habe sie auf Ibiza für dich gekauft“, erklärte ihre Tante. „Das ist die Insel in Spanien, wo ich wohne.“ Begeistert befühlte Tessa die grünen und rosafarbenen Halbedelsteine und löste dabei einen verborgenen Mechanismus aus. Die beiden Hälften des Schmuckstücks sprangen auf, und ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel heraus. Anna flüsterte, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können: „Dein Zuhause ist dort, wo dein Herz Wurzeln geschlagen hat,“ ihre Augen waren von einem so hellen Blau, wie Tessa es noch nie gesehen hatte, „aber wenn du je Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein.“

Auf den Zettel hatte sie nicht nur eine Landkarte mit ihrem Haus darauf gemalt, sondern auch ihre Telefonnummer dazu geschrieben. Ein wenig ratlos besah sich Tessa die liebevolle Zeichnung, auf der neben verschlungenen Wegen mit fremdartig klingenden Namen sogar Bäume, Schafe, eine Windmühle und einige Meereswellen zu sehen waren. Zwar verstand sie nicht, was ihre Tante ihr hatte sagen wollen, hütete aber fortan das Amulett samt Wegbeschreibung wie einen geheimen Schatz. Sie konnte sich nicht erklären, warum nach wie vor niemand in ihrer Familie bereit war, über diese Frau zu sprechen, denn sie wusste noch genau, dass ihre Mutter und Anna auf den alten Fotos wie beste Freundinnen gewirkt hatten. Erst Jahre später, im Rahmen einer Fernsehgala zu Ehren des zwanzigsten Todestages Bruno Bergs, erfuhr Tessa, dass der gefeierte Schlagersänger ihr Onkel gewesen war, den eine ebenso romantische wie tragische Liebesgeschichte mit ihrer Tante verband.

Ein undefinierbarer Geruch nach Gebratenem stieg Tessa in die Nase, und sie verzog angewidert das Gesicht. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er mit Glaswolle gefüllt. Den Kopf gegen das Sitzpolster gelehnt, tastete sie nach dem indischen Amulett, das unter der Bluse schwer auf ihrer Haut lag. Wenn du je Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein …

Ihre Familie glaubte weiterhin, dass sie Urlaub auf den Seychellen machte, wobei sie offiziell natürlich mit einer Freundin reiste. Für ihre Eltern wäre es einem Schlag ins

Gesicht gleichgekommen, hätten sie von der ehebrecherischen Beziehung ihrer Tochter mit Richard Stauffenbacher gewusst.

Nicht zum ersten Mal wurde Tessa von dem Bild Hartmut Wagners in seinem Bett auf der Intensivstation heimgesucht. Obwohl er die Operation gut überstanden hatte, war es beinahe unerträglich für sie gewesen, ihn so hilflos dort liegen zu sehen. Zum ersten Mal ließ sein fortgeschrittenes Alter sich nicht verleugnen. Noch nicht vollständig aus der Narkose erwacht, wirkte er ungewohnt verletzlich, und das Summen und Piepsen der technischen Apparate, an die er angeschlossen war, machte Tessa ganz verrückt. Ach Vati, seufzte sie stumm, während sie sich mit einem schmerzhaften Druck in der Brust fragte, ob sie ihn je wieder würde so nennen können. Sie empfand es als Hohn des Schicksals, dass letztlich gar kein Spenderblut für den Eingriff notwendig gewesen war.

Seit Professor Hoffmann die Aussage der Krankenschwester bestätigt hatte, suchte Tessa nach Argumenten, warum sie all die Jahre belogen worden war. So sehr sie sich jedoch das Gehirn zermarterte, am Ende gab es nur eine logische Erklärung: Ihre Eltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits fünf Jahre verheiratet gewesen, was bedeuten musste, dass Hartmut Wagner selber nichts von dem Kuckuckskind ahnte, das Ellen ihm untergeschoben hatte! Ein Mann wie er wäre niemals bereit gewesen, seiner Frau einen Seitensprung zu verzeihen, geschweige denn ihren Bankert aufzuziehen.

„Was bist du nur für ein Mensch? Du hast Vati und mich nach Strich und Faden belogen!“ Bei Ellen Wagners Ankunft in der Klinik war Tessa so außer sich, dass sie mit einem Kreuzfeuer aus Beschuldigungen über ihre Mutter herfiel, dem diese nichts entgegenzusetzen hatte als einen Weinkrampf.

Auch am darauffolgenden Tag, als Tessa sie in der elterlichen Villa aufsuchte, kam es zwischen Mutter und Tochter zu einer heftigen Szene. Anstatt Tessas Fragen nach ihrem Erzeuger zu beantworten, rettete sich Ellen Wagner abermals in ein Tränenmeer.

„Es ist nicht so, wie du denkst!“, beharrte sie schluchzend, und Tessa, die die Antwort am liebsten aus ihr heraus geschüttelt hätte, schrie: „Wie ist es dann?“

Zitternde Lippen. Ein waidwunder Blick. Schweigen. Tessa verachtete Ellen für ihre Schwäche, aber gleichzeitig empfand sie beinahe Mitleid, denn was sie sah, war eine Frau, die unendlich viel Energie darauf verwandt hatte, eine Fassade der Perfektion zu errichten. Die perfekte Ehefrau in einem perfekten Haus, perfekt gekleidet, perfekt geföhnt, perfekt gebotoxt, perfekt angepasst. Es musste hart für sie sein, zuzusehen, wie ihr perfektes Leben mit einem Schlag ebenso den Bach hinunter ging wie just ihr Make-up, das ihr in bräunlichen Rinnsalen über die Wangen lief. Und das alles nur, weil sie sich vor Jahren eine sexuelle Eskapade mit Folgen geleistet hatte.

Nach einem weiteren Besuch im Krankenhaus, den sie still und verwirrt am Bett des schlafenden Hartmut Wagner verbrachte, fuhr Tessa nachhause. Wieder versank sie in fruchtloses Grübeln, bis ihre Gedanken an einem der Fotos in den alten Alben hängen blieben: Ellen und ihre zukünftige Schwägerin Anna, die sich umschlungen hielten wie siamesischen Zwillinge und unbekümmert in die Kamera lachten.

Instinktiv begriff Tessa, dass sie auf eine Spur gestoßen war. Wann und woran mochte die Freundschaft der beiden Frauen gescheitert sein? Hatte Anna womöglich von Ellens Fehltritt gewusst? Rührte daher ihr Bruch mit der Familie? Auf einmal erschien Tessa die geplatzte Seychellenreise wie eine Fügung. Vielleicht wollte es das Schicksal, dass sie stattdessen nach Ibiza flog und Anna Berg einen Besuch abstattete!

Hartmut Wagner würde selbstverständlich pikiert sein, dass seine Tochter in Anbetracht seines Krankenhausaufenthalts ihren Urlaub nicht absagte, aber diesmal musste Tessa ihre eigenen Bedürfnisse vor die seinen stellen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, sehnte sich nach Sonne – und auf der Mittelmeerinsel konnte sie dabei womöglich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem sie etwas über ihren leiblichen Vater in Erfahrung brachte.

Hektisch machte sie sich daran, ihre Schränke auf den Kopf zu stellen, bis sie in einer Schuhschachtel voller Krimskrams das längst vergessene indische Amulett wiederfand. Sie ließ ihre Finger über die Schmucksteine gleiten, der Schließmechanismus schnappte auf, und der vergilbte Zettel fiel ihr in den Schoß. Hoffentlich stimmt die Nummer noch, betete Tessa, während sie nach dem Telefon griff und mit klopfendem Herzen die Ziffern eintippte, die Anna Berg ihr einst notiert hatte.

Als Tessa diesmal aus dem Fenster sah, hatten sie das Schlechtwettergebiet mit seinen dräuenden Wolkenbergen bereits hinter sich gelassen und überflogen bei klarem Himmel die Alpen. Die schneebedeckten Gipfel und Gletscher boten einen atemberaubenden Anblick. In den Hochtälern waren vereinzelt winzige Dörfchen auszumachen, hie und da blitzte ein See in der schräg stehenden Morgensonne auf wie eine Spiegelscherbe.

Zum ersten Mal, seit sie am vorangegangenen Abend Anna Berg mit der Nachricht ihres Kommens überrumpelt hatte, verspürte Tessa Vorfreude und beinahe so etwas wie Abenteuerlust in sich aufsteigen.

Pfeif auf Richard, befahl sie sich trotzig, pfeif auf Mamas Krokodilstränen und darauf, dass du nicht weißt, wo die Hälfte deiner Gene herkommt – du hast Urlaub und wirst dich auf dieser sagenhaften Insel amüsieren!

Und damit war sie endlich motiviert genug, sich in ihr Reisehandbuch zu vertiefen, wie es sich für eine ordentliche Touristin gehörte.

Kapitel 1.5

„Boah neee!“, stöhnten Tessas Sitznachbarinnen und stöpselten sich eilig ihre Kopfhörer in die Ohren, denn kaum waren nach der Landung die Triebwerke zum Stillstand gekommen, rieselte erneut ein alter Schlager aus den Bordlautsprechern. Tessa wurde aufmerksam, als der Refrain einsetzte und sie den größten Hit Bruno Bergs erkannte. Dreh dich nicht um, sonst kommt die Liebe, sang er mit jenem samtigen Timbre, das in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reihenweise Frauen um den Verstand gebracht hatte. Erst vor kurzem war sie in einer Illustrierten über ein Foto gestolpert, das den Sänger auf dem Höhepunkt seiner Karriere zeigte. Die Aufnahme stammte aus einer Ära lange bevor er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte; jenen Tagen, als er vor allem aus einem betörenden Zahnpasta-Lächeln, seinen berühmten Grübchen und dicken, dunklen Koteletten bestanden zu haben schien. Irgendwie fand Tessa es nun doch spannend, einen echten Hitparadenkönig in der Familie zu haben und nahm sich vor, Anna Berg ein paar Anekdoten zu entlocken, die sich damals hinter den Kulissen der Schlagerwelt abgespielt hatten.

Die Anschnallzeichen erloschen, und in der Kabine brach prompt eine Hektik aus, als gäbe es draußen etwas umsonst. Tessa allerdings ließ sich Zeit. Während ihres Landeanflugs war durch einen mottenzerfressenen Wolkenteppich – Wolken, schon wieder! – kaum mehr von Ibiza zu erkennen gewesen, als ein Stück felsige Küste, einige mit Hotels und Appartementanlagen zugepflasterte Buchten und etwas hügelige Waldlandschaft. Genaugenommen hatte die nur 41 km lange und 15 km breite Insel aus der Vogelperspektive so wenig verlockend gewirkt, dass Tessa sich nun fragte, warum ihre Mitreisenden gar so ungeduldig dem Ausgang zustrebten. Als sie schließlich weit hinten im Gänsemarsch der Passagiere über die Gangway ins Freie trat, stülpte sich die mit einem eigentümlich brackigen Geruch gesättigte Luft über sie wie ein feuchtwarmes Handtuch. Geblendet von der Lichtflut des mediterranen Morgens blieb sie stehen, beschattete ihre Augen mit der Hand, und ihr Blick flog über das Rollfeld, an dessen Ende sie eine weite Fläche spiegelglatter, rosa schimmernder Wasserbecken erkennen konnte. Unmittelbar dahinter, wie auf einer Panoramapostkarte, lag das Meer.

In ihrem Reiseführer hatte Tessa gelesen, dass der Flughafen an eine Salinenanlage aus phönizischer Zeit grenzte, die bis zum heutigen Tag in Betrieb war. Der Modergeruch stieg von jenen rosa Bassins auf, in denen Meerwasser verdunstet wurde – und der mächtige, kurios anmutende Schneehaufen, der in einiger Entfernung wie eine Fata Morgana in der Sonne flimmerte, bestand in Wahrheit aus purem Salz.

Sie wusste nicht, ob es an der Aussicht oder der viel beschworenen Inselmagie lag, aber als Tessa in den Bus stieg, der sie zum Flughafengebäude bringen sollte, lag zum ersten Mal seit Tagen die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen. Am Gepäckband angekommen zog sie zögernd ihr Telefon aus der Handtasche und hielt es zwischen zwei Fingern wie eine heiße Kartoffel. Auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, hoffte sie auf einen Anruf von Richard. Sie hatte seit ihrem Streit nicht mehr mit ihm gesprochen, und ihre Wut war inzwischen verraucht. Jetzt wollte sie hören, dass zwischen ihnen alles wieder in Ordnung kommen würde.

Aus dem Augenwinkel gewahrte Tessa den Jacketkronen-Mann, der sich mit Hilfe seiner Tasche einen Weg durch die Menge bahnte. Als sie sah, dass er genau auf sie zusteuerte, drehte sie ihm demonstrativ den Rücken zu. Dann holte sie tief Luft und schaltete ihr Handy ein.

Da! Mit einem Summton kündigte der Apparat zwei neue Mitteilungen an. Die Erste, in der sie von einer spanischen Mobilfunkgesellschaft willkommen geheißen wurde, drückte Tessa hastig weg. Die Zweite informierte sie über eine Nachricht auf ihrer Mailbox.

Richard!

Den Hörer ans Ohr gepresst, lauschte Tessa seiner Stimme: Bist du wieder in Ordnung, Schatz?, fragte er besorgt, Warum meldest du dich denn nicht? Hör mal, ich möchte unbedingt die Sache mit dem verpatzten Urlaub wieder gut machen. Ich rufe später nochmal an.

Sie hätte am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen. Das klang so, als würde Richard sie vermissen. Es klang sogar, als habe er verstanden, wie sehr er sie verletzt hatte! Mit einem sehnsüchtigen Ziehen in der Magengrube blickte Tessa auf das Telefon in ihrer Hand. Wohl wissend, dass sie ihren Geliebten nicht zurückrufen durfte, liefen ihre Fingerspitzen Schlittschuh auf dem Display.

Als sich mit einem Quietschen das Kofferband in Bewegung setzte, wählte sie Richards Nummer. Das Freizeichen dröhnte in ihren Ohren. Einmal. Zweimal.

Dreimal. Vierm…

„Stauffenbacher?“

Obwohl es so viel gab, das sie ihm sagen wollte, bekam Tessa kein Wort heraus. Ihr Puls raste.

„Hallo? Wer ist denn da?“ Offenbar funktionierte durch die Auslandsverbindung die Rufnummernerkennung nicht, und Richard wurde ungeduldig, wie stets, wenn sich eine Angelegenheit seiner Kontrolle entzog. Tessa schluckte. „Ich bin’s.“

Keine Antwort.

Eilig fuhr sie fort: „Ich habe deine Nachricht gehört.“ Richard schwieg noch immer. Dann zischte er:

„Tessa?! Was soll das?“

„Tut mir leid, ich weiß, dass ich dich nicht anrufen soll, aber…“

Verdammt! Warum ließ sie sich sofort in die Defensive drängen?

Müsste nicht er sich bei ihr entschuldigen? Er konnte froh sein, dass sie bereit war, ihm zu verzeihen! Bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, erklärte

Tessa: „Weißt du, Richard, es ist ziemlich viel passiert, über das ich mit dir sprechen wollte.“ Sie straffte die die Schultern.

„Aber jetzt bin ich in Spanien und weiß nicht, ob und wie ich in nächster Zeit zu erreichen sein werde.“

Kurzfristig vergaß er, seine Stimme zu dämpfen: „Wo bist du?“ Die Worte kamen durch die Leitung geschossen wie Schrotkugeln. Hatte er allen Ernstes geglaubt, sie würde sich in ihrem Urlaub zuhause vergraben, um auf sein gnädiges Erscheinen zu warten?

„Du hast mich ganz richtig verstanden“, konterte Tessa mit einer seiner liebsten Phrasen. „Ich bin gerade auf Ibiza gelandet.“

„Mir war nicht klar, dass du dich neuerdings für Partys, Drogen und Techno-Musik begeisterst.“ Richard klang verschnupft, sprach jedoch wieder leiser. Es war Samstagmorgen, vermutlich geisterte Anette hinter ihm durchs Haus.

„Bitte, lass uns nicht wieder streiten“, versuchte Tessa ihn zu

beschwichtigen. „Ich bin nur hier um meine …“, sie stockte kurz, „meine Tante zu besuchen, und die wohnt sehr zurückgezogen auf dem Land.“

„Die Witwe von dem Schlagerheini?“

„Genau die.“

Diese Information schien Richard zu besänftigen, denn er schlug endlich einen liebevolleren Ton an: „Mein Schatz“, raunte er, „ist dir klar, dass ich mir Sorgen gemacht habe, weil ich dich nirgends erreichen konnte?“

Tessa spürte, wie eine Last von ihr abfiel. „Ach, Richard! Du fehlst mir doch auch!“ Bereit, alles zu vergessen, was zwischen ihnen stand, sprudelten die nächsten Worte einfach aus ihr heraus: „Warum kommst du nicht her? Nur für ein paar Tage? Meiner Tante macht das bestimmt nichts aus, und wenn doch, suchen wir uns eben ein schnuckeliges kleines Hotel!“

„Tessa, du weißt doch–“

„Mir ist klar, dass du eine Verantwortung für deine Familie trägst, und ich mache dir auch keinen Vorwurf, dass wir die Seychellen verschieben müssen“, beteuerte sie. „Aber ich brauch dich jetzt! Ich habe etwas Schlimmes erfahren… Bitte komm her, Richard!“

Als er ihr nicht widersprach, wusste sie, dass er in dieser Sekunde seine Brille abnahm, um sich die Nasenwurzel zu reiben, während er überlegte, welche erfundene Geschäftsreise ihm als Alibi für einen Kurztrip nach Ibiza dienen könnte.

Spontaneität war für Richard ein Fremdwort, er tat keinen Schritt, ohne ihn sorgfältig vorbereitet zu haben. Dieser Charakterzug gehörte zu ihm wie seine beginnende Glatze und die Vorliebe für rote Gummibärchen. Ein Gefühl der Zärtlichkeit wallte in Tessa auf. O Richard, ich liebe dich so sehr, dachte sie.

Er räusperte sich. „Du weißt doch, dass es Anette zur Zeit nicht gut geht.“ Seine Stimme klang gepresst. „Kannst du das nicht begreifen?“

Tessas Euphorie fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ja, sie begriff. Sie begriff, dass er nicht kommen würde. Weniger aus echtem Interesse als um das Schweigen zu brechen, fragte sie: „Was fehlt Anette denn eigentlich?“

„Ach… Sie hat im Moment… na ja… eben gesundheitliche Probleme.“

Es war untypisch für Richard, so herumzudrucksen. In Tessas Kopf leuchtete eine Warnlampe auf: „Was denn für Probleme?“ Er blieb stumm. Wie durch einen Wattefilter drang die Geräuschkulisse der Gepäckhalle an Tessas Ohren.

„Richard, was ist los?“

Als er es ausgesprochen hatte, ließ sie das Telefon sinken. Mit leeren Augen starrte sie auf den Schuppenpanzer des Kofferbandes. An der Stelle, wo eben noch ihr Herz gewesen war, blieb nur brennender Schmerz.

Kapitel 1.6

Das Gepäckband setzte sich in Bewegung, und Katharina hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.

„Jetzt geht’s los, Papa!“, krähte sie, „Mach die Uhr an!“

„Ok.“ Daniel Lux aktivierte mit gewichtiger Miene die Stopp-Funktion seiner Armbanduhr. „Kannst dich denn noch erinnern, wie lange es beim letzten Mal gedauert hat, bis dein Koffer kam?“

„Zwölf Minuten und dreiunddreißig Sekunden“, antwortete Kathi wie aus der Pistole geschossen. „Viel zu lange!“ Sie setzte ihren ständigen Begleiter, einen zerzausten, ehemals weißen Plüschhund, zwischen zwei vorbeizuckelnde Reisetaschen und ließ ihn ein paar Meter spazieren fahren, bevor sie ihn wieder in die Arme zog. „Herrn Lehmann ist langweilig“, verkündete sie.

Daniel nickte verständnisvoll, auch wenn er selbst sich keineswegs langweilte. Seit er mit seiner Tochter – und Herrn Lehmann, benannt nach jenem Nachbarn, der ihr das Stofftier einst geschenkt hatte –, am Gepäckband stand, blieben seine Augen immer wieder an der hochgewachsenen, dunkelhaarigen Frau hängen, die im Flugzeug hinter ihm gesessen hatte. Sie stand schräg gegenüber und telefonierte.

Apfelsaft zu trinken passte gar nicht zu ihr, befand Daniel in Erinnerung an seinen Kontaktversuch während der Getränkeausgabe. Vielmehr erweckte sie den Anschein, als fließe statt Blut schwarzer Kaffee durch ihre Adern. Jede ihrer Bewegungen wirkte wie von einem straff gespannten

Federmechanismus angetrieben. Dennoch gefiel sie ihm, und obwohl ihr für seinen Geschmack ein paar Rundungen fehlten, glaubte Daniel, unter ihrem Rock ein Paar tolle Beine zu erahnen.

Denk gar nicht erst dran, ermahnte er sich, während er das wechselnde Mienenspiel der Frau am Telefon beobachtete, du hattest schon immer ein Händchen für Problemfälle. Vom Siebten Himmel ist dir noch nie was anderes geblieben als ein großer Haufen Mist! Sein Blick fiel auf Kathi, die eifrig am Gepäckband Wache stand, und sofort revidierte er diesen Gedanken. Von seiner Bruchlandung mit Vanessa, der letzten auf einer traurigen Liste gescheiterter Beziehungen, war ihm sehr wohl etwas geblieben, und er dankte noch heute dem Himmel und allen zuständigen Heiligen, dass seine Exfrau ihm inzwischen nicht nur erlaubte, ihre gemeinsame Tochter zu sehen, sondern sie sogar regelmäßig zu sich nach Ibiza zu holen. Über Vanessa hinwegzukommen war schmerzhaft gewesen, aber obwohl sie seinem Selbstwertgefühl gehörig Schlagseite verpasst hatte, brauchte er über mangelnden Erfolg bei Frauen nicht zu klagen. Seinen verhassten Segelohren konnte er es allerdings nicht anlasten, dass er immer an die Falschen geriet. Er war einfach zu blauäugig, was das weibliche Geschlecht anging.

„Wie lange schon, Papa?“, rief Kathi, worauf Daniel einen Blick auf seine Uhr warf:

„Erst vier Minuten, sechsundzwanzig Sekunden. Des dauert wohl noch.“ Sie zog eine Schnute und wandte sich wieder den vorüberziehenden Koffern und Taschen zu. Herr Lehmann ließ den Schwanz hängen. Er sah wirklich sehr gelangweilt aus. Daniel grinste. Liebevoll strich er seiner Tochter die Ponyfransen aus der Stirn, als seine Aufmerksamkeit wieder von der Frau gegenüber in Anspruch genommen wurde. Sie hatte ihr Telefonat beendet und starrte das Gepäckband an. Den Ausdruck auf ihrem schmalen Gesicht mit den aufregend hohen Wangenknochen vermochte Daniel nicht zu deuten. War sie wütend? Traurig? Einen Moment lang wirkte es als würde sie in Tränen ausbrechen, doch dann warf sie den Kopf zurück, straffte die Schultern und eilte zwei pudellockigen Damen zu Hilfe, die sich bemühten, einen überdimensionalen Hartschalenkoffer vom Band zu wuchten. Daniel fand es hinreißend, wie sie dabei ihre Zungenspitze in den

Mundwinkel klemmte, und musste all seine Willenskraft aufbringen, um den Blick von ihr loszureißen.

Als er das nächste Mal hinsah, war die Frau verschwunden. Nach gefühlten tausend Runden Ich sehe was, was du nicht siehst, nahte auf dem Gepäckband endlich der Trolley seiner Tochter. „Ich sehe was, was du ned siehst…“, frohlockte Daniel, „…und des is’ überfällig!“ Er stoppte seine Uhr. „Siebzehn Minuten

und neunundvierzig Sekunden.“ Kathi an der einen, ihren Koffer in der anderen Hand, steuerte er auf den Ausgang zu. „Was hältst du davon, wenn wir zur Entschädigung nachher ein Eis essen gehen?“

„Au ja!“, Kathis Murmelaugen leuchteten. Sie verließen das Flughafengebäude und kamen an der Warteschlange am Taxistand vorbei, wo sie erneut auf die Frau aus dem Flieger trafen.

„Hallo!“, grüßte Daniel freundlich.

Ihre Antwort beschränkte sich auf ein Nicken, und er wollte schon den Zebrastreifen ansteuern, als Kathi an seinem Ärmel zerrte, um ihn am Weitergehen zu hindern. Neugierig baute sie sich vor der Fremden auf:

„Warum stehst du hier? Hast du kein Auto?“

„Nein, ich bin ja nur zu Besuch hier.“

„Ich auch, aber mein Papa hat ein Auto!“, Kathi strahlte voller Stolz und enthüllte dabei eine Zahnlücke.

„Aha.“ Die Frau rang sich ein Lächeln ab.

„Kann ich Sie irgendwo absetzen?“, fragte Daniel, aber sie schüttelte den Kopf:

„Vielen Dank. Ich komme schon zurecht.“

„Na dann…“, er zögerte, „schönen Urlaub.“ Doch sie hatte sich bereits abgewandt.

Kapitel 1.7

„Wohin?“, brummte der Taxifahrer, verstaute seine Leibesfülle hinter dem Lenkrad und musterte Tessa abwartend im Rückspiegel.

„In die Nähe von San Mateo.“ Sie nestelte das indische Amulett unter ihrer Bluse hervor, klappte es auf und ließ den gefalteten Zettel mit Anna Bergs Wegbeschreibung in ihre Handfläche fallen. „Es ist ein Privathaus auf dem Land.“ Sorgfältig glättete sie das Papier, bevor sie es nach vorne reichte. „Hier. Ich hoffe, Sie können was damit anfangen.“

Obwohl ihre Kenntnisse seit der Schulzeit ein wenig eingerostet waren, bereitete es Tessa kaum Schwierigkeiten, sich auf Spanisch zu verständigen. Dem Taxifahrer schien das zu gefallen, denn seine Miene hellte sich merklich auf. Er studierte die Zeichnung, murmelte etwas vor sich hin, und tippte dann mit seinem schwarz behaarten Zeigefinger auf eine Windmühle, die eine Weggabelung markierte.

„Wo haben Sie denn diesen Plan her?“, fragte er und kratzte sich den Bartschatten. „Die Mühle da ist vor mindestens fünfzehn Jahren abgerissen worden, als man die Straße asphaltiert und verbreitert hat.“

„Glauben Sie, Sie finden trotzdem hin?“

Er legte den ersten Gang ein. „Claro que sí! Meine Familie stammt aus der Gegend.“ Schwungvoll fädelte er das Taxi in den Verkehr ein. „Ich kenne sogar das Haus, man nennt es Can Cantante Alemán.“

Zum Haus des Deutschen Sängers übersetzte Tessa stumm, doch sie war nicht bei der Sache. Ihre Gedanken kreisten schon wieder um ihr Telefonat mit Richard.

Anette war schwanger. Von ihm.

Tessa grub die Zähne in die Unterlippe. Richards Geständnis nahm ihr die letzte Möglichkeit, den Kopf in den Sand zu stecken. Er hatte sie die ganze Zeit über belogen. Und du warst mehr als bereit, ihm zu glauben!

Eine Träne rollte ihr über die Wange, und sie presste wütend ihre Handballen gegen die Augen. Wie hatte sie überhaupt so dämlich sein können, sich auf ihn einzulassen? Nicht nur, dass sie in den vergangenen zwei Jahren ihr gesamtes Privatleben nach ihm ausgerichtet hatte, er war obendrein ihr Chef! Nach dem Urlaub musste sie in die Kanzlei zurückkehren und mit ihm zusammenarbeiten, als sei nichts geschehen. Wobei es Richard ähnlich sähe, sie trotz allem wieder anzurufen. Was, wenn er sie in einem schwachen Moment erwischte? Wäre sie fähig, ihn abzuweisen, nachdem sie ihm schon so vieles verziehen hatte?

Einem Impuls folgend, griff Tessa in ihre Handtasche, zog ihr Telefon heraus und schaltete es ab. Als die Beleuchtung des Displays erlosch, schwor sie sich, das Handy für die Dauer ihres Urlaubs nicht mehr anzurühren. Sehr gut!, tönte es in ihrem Kopf, bis dahin wirst du hoffentlich verinnerlicht haben, dass Richard nichts anderes ist, als ein selbstsüchtiges, verlogenes Ar…

„La primera vez en Ibiza?“, mischte sich die Stimme des Fahrers ein. Tessa schickte ein schmales Lächeln in den Rückspiegel. „Ja, ich bin zum ersten Mal hier.“ Sie sah demonstrativ aus dem Fenster, um jegliche Unterhaltung im Keim zu ersticken. Der Blick, der sich ihr bot, war indes nicht dazu angetan, sie aufzuheitern. Vorbei an Industriebauten und Lagerhallen, folgte das Taxi einer vierspurigen Schnellstraße, auf deren Mittelstreifen sich ein kümmerlicher Oleanderbusch an den nächsten reihte. Zwischen Batterien von Wohnblöcken zerfielen mit Graffiti beschmierte Natursteinhäuschen zu Ruinen einer vergessenen Zeit; in der Richtung, in der Tessa das Meer vermutete, erhob sich ein Hotelklotz neben dem anderen, und selbst das von ihrem Reisehandbuch so hochgelobte Wahrzeichen Ibizas, die mittelalterliche Burg, deren Mauern auf einem Hügel in der Ferne sandfarben leuchteten, hob sich kaum von der Betonflut zu seinen Füßen ab.

Müde schloss Tessa die Augen. Sie fühlte sich wie umgestülpt und ausgeleert. Warum war sie nicht einfach in München geblieben, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen?

Als sie mit der Schläfe gegen das Seitenfenster knallte, schreckte Tessa hoch. Anstelle des befürchteten Unfall-Szenarios war für ihr unsanftes Erwachen jedoch lediglich der Schlingerkurs des Taxis verantwortlich, das über einen mit Schlaglöchern übersäten Feldweg holperte.

Verblüfft sah sie sich um. Wie lange hatte sie geschlafen? Oder träumte sie?

„Halten Sie an!“

Der Fahrer trat auf die Bremse und drehte sich alarmiert nach ihr um. „¿Qué pasa?“, wollte er wissen, aber Tessa war bereits aus dem Wagen gesprungen. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie die von unzähligen mediterranen Wohlgerüchen durchsetzte Luft in ihre Lungen strömen und wusste kaum, wo sie zuerst hinschauen sollte. Es schien, als habe das Taxi sie geradewegs auf einen anderen Planeten transportiert, so schön war dieses Tal, über dem kein Wölkchen mehr das himmlische Blau trübte. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Orangenhain, dessen Bäume schwer an reifen Früchten trugen. Auf der mit Wildblumen übersäten Wiese zu ihrer Linken weidete eine Schafherde, und die mächtigen, silbergrauen Skulpturen der Olivenbäume ließen Tessa unwillkürlich an das traurige Exemplar der selben Gattung denken, das in einem Terrakotta-Topf auf ihrer Terrasse vor sich hin siechte. Als sie die Nase in einem blühenden Lavendelstrauch vergrub, explodierte die Freude in ihrem Bauch wie Knisterbrause, und sie hätte beinahe angefangen zu singen: Urlaub! Endlich! Zwei Wochen lang würde sie sich in der Sonne aalen, im Mittelmeer planschen, nebenbei aufschlussreiche Gespräche mit Anna Berg führen – und falls rein zufällig ein glutäugiger Torero ihren Weg kreuzte, konnte sie für nichts garantieren. So!

Bevor sie zurück ins Taxi stieg, stibitzte sie unter dem belustigten Blick des Fahrers blitzschnell eine Orange vom Baum. Das ist Diebstahl!, rügte die Juristin in ihr, aber

gleichzeitig musste sie kichern. Ob magisch oder nicht, Ibiza hatte sie bereits verzaubert!

Kapitel 1.8

Eine lange Staubfahne hinter sich her ziehend, rumpelte das Taxi davon. „Ahí está“, hatte der Fahrer verkündet, „Can Cantante Alemán.“

Tessas Blick wanderte staunend über das archaisch anmutende Anwesen, dessen blendendweiß getünchte, festungsgleiche Mauern keiner Wasserwaage standgehalten hätten. Wo war die protzige Villa, die sie erwartet hatte? Wo die hohen, kameraüberwachten Zäune, das elektrische Tor, um sich vor Einbrechern zu schützen?

Sie folgte einer langen Auffahrt, die sich zwischen mannshohen Oleanderbüschen entlang wand, wobei ihr Rollkoffer auf dem Kies einen solchen Lärm veranstaltete, dass ihre Ankunft vermutlich im gesamten Tal zu hören war. Ein schwarzweiß geflecktes Kätzchen, das im Schatten der Hecke ein Nickerchen gehalten hatte, flitzte beleidigt maunzend davon.

Noch bevor Tessa das Haus erreichte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Auf der Schwelle erschien eine mollige, kleine Spanierin, deren buntgeblümte Kittelschürze mit ihren roten Wangen um die Wette leuchtete. Sie schlug die Hände vor den Mund und starrte die Besucherin auf dem Vorplatz an wie eine Erscheinung.

¡Dios mío!“, rief sie, „Sie sind die sobrina, die Nichte aus Deutschland!“

„Ja!?“ Tessa wusste nicht recht, was sie von diesem dramatischen Auftritt halten sollte.

¡Ay, pobrecita! Sie armes, armes Ding!“ Die Frau eilte ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen, als wolle sie den Gast an ihren gewaltigen Busen ziehen, griff dann aber lediglich nach Tessas Händen, um sie fest zu drücken. „So eine schrecklich weite Reise, ganz umsonst!“

„Umsonst? Wie meinen Sie das?“ Unauffällig versuchte Tessa, ihre Finger aus der Umklammerung zu lösen. „Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf, und wo ist Señora Berg?“ „Me llamo María. Ich führe Ihrer Tante das Haus, schon seit vielen Jahren!“ Die Spanierin riss ihre rehbraunen Augen auf und presste in Höhe des Herzens eine Hand auf die Brust. Ihre Lippen zitterten. ”Ha ocurrido un accidente! Die Doña ist … sie hatte einen Unfall!“

„Was?“ Tessas Nerven begannen zu vibrieren. Nahmen die Katastrophenmeldungen denn überhaupt kein Ende mehr?

Sí, sí, die arme Doña Anna. La pobre … Was für ein Unglück!“ Mehrmals hintereinander bekreuzigte sich María heftig. „Und ausgerechnet an der Stelle, wo  damals ihr geliebter Mann in den Tod gestürzt ist! ¡Qué horror! “ In Tessa stieg das Bild einer weißgekleideten Frauengestalt auf, die wie eine zerbrochene Puppe auf wellenumtosten Felsen lag.

„Señora Berg ist … tot?“, fragte sie ungläubig. Trotz des Sonnenscheins war ihr Rücken plötzlich von kaltem Schweiß bedeckt.

No, no, no!“, lebhaft schüttelte María den Kopf mit dem ordentlich aufgesteckten, von Silberfäden durchzogenen schwarzen Haar, während sie erneut das Kreuzzeichen schlug. „Aber es geht ihr sehr schlecht. Está en el hospital.

Tessa glaubte zu sehen, wie ihr Gegenüber eine Träne wegblinzelte, doch bevor sie weiter nachfragen konnte, klatschte die kleine Frau energisch in die Hände.

Ay, was bin ich unhöflich!“, rief sie aus, „Kommen Sie, jetzt trinken wir erst mal einen schönen café con leche zusammen. Vorher lasse ich Sie nicht wieder zum Flughafen fahren! Dios mío, que desgracia más terrible!” Untermalt vom Flip-Flap ihrer Badeschlappen marschierte sie ins Haus, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Kielwasser ihrer halblauten Klagerufe folgte die ratlose Tessa.

Den Plan, von Anna Berg etwas über ihren leiblichen Vater zu erfahren, konnte sie sich unter diesen Umständen wohl abschminken. Aber sollte sie deshalb sofort zurück nach Deutschland fliegen?

In einem verwinkelten Vestibül stellte sie ihren Koffer ab und betrat hinter der Haushälterin die Küche. „Wow!“, entfuhr es ihr. Der Raum allein war halb so groß wie ihr Münchner Appartement. Ihr Blick glitt bewundernd über die unebenen, geweißten Wände, und sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um das dunkle Balkenwerk der Holzdecke betrachten zu können. Sie kam sich beinahe vor wie in einem Museum, denn selbst den verblichenen Tonfliesen auf dem Fußboden sah man an, dass sie gebrannt worden waren, lange bevor Gasherd, Kühlschrank oder Waschmaschine Einzug gehalten hatten.

In jenen Tagen musste es hier finster gewesen sein wie in einer Gruft, bemerkte Tessa, denn die beiden tief in ihren Höhlen liegenden Fensteröffnungen waren jeweils kaum größer als ein Blatt Papier. Den breiten Streifen Tageslicht, der von der

Gartenseite aus herein flutete, verdankte die Küche einem offenbar nachträglich eingebauten Panoramafenster. Davor erhob sich ein mit Früchten beladener Zitronenbaum, der durch das Glas wie ein gerahmtes Gemälde wirkte.

Das Fauchen einer Gasflamme erinnerte Tessa daran, dass sie nicht allein war, und sie wandte sich María zu, die gerade eine Kasserolle mit Milch auf den Herd schob.

„Bevor ich wieder abreise, möchte ich die Señora auf jeden Fall im Krankenhaus besuchen.“

Die Haushälterin schlappte zu dem steinernen Spültisch hinüber, um Wasser in eine Kaffeekanne zu füllen. Sie machte ein zweifelndes Gesicht. „Die Señora besuchen?“, echote sie, „No sé… Ich weiß nicht. Sie braucht sehr, sehr viel Ruhe, la pobre!“

Aus einer Blechdose löffelte sie Kaffeepulver in den Filter einer einfachen aber blitzsauberen Maschine und stellte eine Zuckerdose, zwei Porzellanbecher und zwei Gläser Wasser auf ein Tischchen in der Ecke, dessen Platte ein blauweiß kariertes

Wachstuch zierte.

„Ach, die arme Doña Anna“, jammerte sie wieder. „Wie konnte das nur geschehen?“ Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und bedeutete Tessa, es ihr gleichzutun. „Was genau ist denn passiert?“, erkundigte sich diese und hob unwillkürlich die Nase, als mit einem Blubbern die ersten Duftschwaden aus der Kaffeemaschine drangen.

Es culpa mía … meine Schuld!“ María rang die Hände. „Wenn ich die Señora aufgehalten hätte, wäre gar nichts passiert!“ Sie seufzte schwer. „Doña Anna erschien gestern Abend hier in der Küche und bat mich, eines der Gästezimmer herzurichten, weil überraschend ihre Nichte zu Besuch kommen würde – das sind Sie, Señorita, la sobrina, no?! Aber dann sagte sie, sie wolle einen Spaziergang zur Steilküste machen.“ Plötzlich ertönte ein Zischen, und der Geruch von angebrannter Milch zog durch den Raum.

„¡Maldita sea!“, fluchte die Haushälterin. Sie eilte zum Herd um das Feuer unter der Kasserolle abzudrehen, bevor sie weitersprach: „Ich war gleich in Sorge, weil mir die Señora sehr nervös vorkam, muy nerviosa!“ Ihre Stimme zitterte. „Sie ist seit Jahren nicht mehr dort oben gewesen, müssen Sie wissen, und es wurde doch schon dunkel! Dabei ist sie wirklich nicht mehr die Jüngste. Y sus ojos… ihre Augen sind auch nicht mehr die besten…“ Den Milchtopf in der einen, die Kaffeekanne in der anderen Hand trat María zurück an den Tisch. „Ich wollte sie ja gar nicht fortlassen, aber sie hat einfach nicht auf mich gehört!“

Unter anderen Umständen hätte das theatralische Mitteilungsbedürfnis der Frau Tessa sicherlich ebenso amüsiert wie ihre Angewohnheit, jeden Satz in einem Durcheinander aus Deutsch und Spanisch zu bilden, doch in diesem Moment hing ihre Geduld am seidenen Faden. „Señora Berg ist also im Dunkeln zur Steilküste gegangen“, drängte sie, „und waspassierte dann?“ In hohem Bogen goss María erst den Kaffee und dann die heiße Milch in die Porzellanbecher. „Vale, no sé, ich weiß nicht. Vielleicht ist sie gestolpert, vielleicht ein starker Windstoß … Der Wind kann hier unberechenbar sein, wissen Sie! Erst kürzlich hat es bei uns gebrannt, weil das Feuer von den Gartenabfällen… Ah, da igual! Egal! Jedenfalls ist die Doña über die Klippe gestürzt.“

„Um Himmels Willen! Wie hat sie das denn überlebt?“ Tessa setzte ihre Kaffeetasse, die sie kaum an die Lippen geführt hatte, wieder ab.

Un milagro divino!” Ein Lächeln erhellte Marías Züge. „Der Allmächtige fand es noch nicht an der Zeit, sie zu sich zu holen und hat ein Wunder getan. ER hat ihr die Kraft gegeben, sich an einem Romero, einem Rosmarinstrauch festzuhalten, der dort oben an der Felskante wächst. Doch damit nicht genug! In seiner grenzenlosen Güte hat ER zwei Engel in Menschengestalt geschickt, die die Schreie der Doña gehört haben. So wurde sie gerettet!“ Die Haushälterin legte ihre Finger auf das filigrane goldene Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing. Eindringlich sah sie Tessa an. „Un verdadero milagro! Ein echtes Wunder, nicht wahr?“ Tessa nickte schaudernd. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie viel Angst Anna Berg ausgestanden haben musste. „Ist sie verletzt?“

Claro que sí! Sie hat eine Gehirnerschütterung und musste an der Schläfe genäht werden – sechs Stiche! – weil sie mit dem Kopf auf die Felsen geschlagen ist.“ Zur Verdeutlichung klatschte sich María mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Genau so! Und böse Schürfwunden hat sie, am ganzen Körper!“

„Aber sagten Sie nicht, es ginge ihr sehr schlecht?“, erkundigte sich Tessa verwundert, „Was Sie da aufzählen klingt für mich nicht sonderlich dramatisch.“

Die Haushälterin setzte eine entrüstete Miene auf und tätschelte sich in Brusthöhe den geblümten Kittel. „Hier geht es ihr nicht gut!“, rief sie, „Aquí! Sie ist schrecklich erschöpft.“

Die leidenschaftliche Sorge Marías um das Wohlergehen ihrer Arbeitgeberin rührte Tessa. Während sie mit langsamen Schlucken ihren Kaffee trank, musterte sie die Spanierin unauffällig und fragte sich, wie lange diese bereits in Annas Diensten stehen mochte. Sie schätzte María auf Anfang Sechzig, doch obwohl ihr rosiges Gesicht ein wenig verblüht wirkte, hätten ihre wachen Augen und die flinken Gesten ihrer Hände einer viel Jüngeren gehören können. „Ich versichere Ihnen, dass ich die Señora nicht aufregen werde“, erklärte Tessa herzlich, „aber sie wäre bestimmt

enttäuscht, wenn sie erfährt, dass ich hier war ohne sie zu besuchen. Meinen Sie nicht?“

Tessa hatte die Haushälterin davon überzeugen können, dass sie die Kranke wie ein rohes Ei behandeln würde, und da an diesem Tag ohnehin kein Flug nach München mehr zu bekommen war, bot ihr María schließlich sogar an, für die Fahrt zum Krankenhaus Anna Bergs Wagen zu benutzen. Dieser entpuppte sich als schneeweißer, mit leuchtendbunten Blumen bemalter Renault 4, der am Rand des Vorplatzes unter einem mit Palmwedeln gedeckten Dach parkte. Das kleine Auto schien bemerkenswert gut erhalten, obwohl laut María einst schon Bruno Berg die Straßen der Insel damit unsicher gemacht hatte.

„¡Pero cuidado! Versprechen Sie mir, sich vorzusehen!“, mahnte die Haushälterin. „Die Doña hängt sehr an dem Auto! Sie hütet es wie ihren Augapfel. Alle drei Monate kommt der Mechaniker zur Revision … ¡Cada tres meses, eh! … Das mag Ihnen übertrieben vorkommen, aber der Wagen war vor langer Zeit ein Geschenk von Señor Berg und –“ „Vielen Dank für Ihr Vertrauen“, unterbrach Tessa, bevor María sich noch weiter in Schwung plappern konnte. „Ich werde gut aufpassen. Versprochen!“

Nachdem sie eingestiegen war, beäugte sie misstrauisch die altmodische Revolverschaltung und musste ein paar Mal mit dem langen, am Armaturenbrett montierten Hebel in den Gängen herumrühren, bevor es ihr gelang anzufahren, ohne den Motor abzuwürgen. Doch schon als sie in den Feldweg einbog, den sie kurz zuvor mit dem Taxi gekommen war, begann ihr die Sache Spaß zu machen. Sie kam sich vor wie die Darstellerin in einem verstaubten Schlagerfilm – eigentlich fehlten nur noch Bruno Berg oder Roy Black an ihrer Seite. Zur Sache, Schätzchen! Übermütig gab Tessa Gas.

Sie konnte nicht ahnen, dass sie längst die Hauptrolle in einem mörderischen Drama spielte.

Kapitel 1.9

Krankenhäuser riechen alle gleich. Tessa rümpfte die Nase und fragte sich, warum ihr Reiseziel, an dem es nach Sonnenöl und Sangria, nach gegrilltem Fisch, Schinken und Paella duften sollte, für sie nur dieses Déjà-vu in Form von Kamillentee und Desinfektionsmitteln bereithielt. Sie entschied, das verpatzte Wiedersehen mit Anna Berg schnell hinter sich zu bringen. Da sich im Dunstkreis von Einwegspritzen und Bettpfannen kaum die Möglichkeit zum Lüften geheimer Familienangelegenheiten ergeben würde, lief es ohnehin auf einen Höflichkeitsbesuch hinaus. Dennoch war Tessa mulmig zumute, als sie vor dem gesuchten Zimmer stand. Worüber sprach man in einer solchen Situation mit einer vollkommen Fremden? Sie atmete tief durch, klopfte an und öffnete die Tür. Im vorderen der beiden Betten setzte sich eine dralle junge Frau mit eingegipstem Bein erwartungsvoll auf.
Als sie begriff, dass der Besuch nicht ihr galt, ließ sie sich mit enttäuschter Miene zurück in die Kissen fallen.
Die Patientin im zweiten Bett lag dem Fenster zugewandt, hinter dem über sandfarbenen Flachdächern und einem Meer aus Satellitenschüsseln lediglich ein schmaler Streifen blauenHimmels auszumachen war. Durch das Gewirr ihrer grauen Locken konnte Tessa nicht erkennen, ob die Frau wach war oder schlief.
„Anna Berg?“, forschte sie leise.
Die Angesprochene drehte langsam den Kopf. Über ihrer Schläfe klebte ein handtellergroßes Pflaster. Ihr Blick schien von weit her zu kommen.
„Du bist Tessa.“ Sie kniff die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Dann klopfte sie mit einer verbundenen Hand auf ihre Bettdecke. „Komm her, Kind, damit ich dich anschauen kann.“
Tessa trat befangen näher und versuchte, eine Verbindung zwischen dieser merkwürdig alterslos erscheinenden Frau und dem engelsgleichen Wesen ihrer Erinnerung herzustellen.
„Hallo Anna, wie fühlst du dich?“ Ohne sich dessen bewusst zu sein, flüsterte sie. Anna Bergs Körper in dem gestärkten Krankenhausnachthemd wirkte so zart, als genügten bereits Schallwellen, um ihm weitere Verletzungen zuzufügen.
„Deine Haushälterin hat mir erzählt, was passiert ist.“

Annas ungewöhnlich hellblaue Augen tasteten Tessa ab wie die Finger eines Blinden, und für einen Moment fühlte sie sich an das Grab ihres Großvaters zurückversetzt. Auch damals hatte die Frau sie so durchdringend gemustert, als würde sie in ihrem Gesicht nach etwas suchen.
„Aus dem kleinen Mädchen ist eine schöne Frau geworden.“ bemerkte Anna mit wehmütigem Lächeln. „Ich freue mich, dass du gekommen bist.“
Ein Anflug von Selbstmitleid ließ Tessas Worte gereizt klingen:
„Tja, leider ist das Timing ziemlich mies.“ Sie biss sich auf die Lippen. Als sie weitersprach, achtete sie darauf, einen sachlichen Ton zu treffen: „Ich denke, ich werde mir übergangsweise ein kleines Hotel suchen und dann den ersten günstigen Flug zurück nach München nehmen.“
„Papperlapapp!“ Überraschend lebhaft richtete Anna sich auf.
„Nichts dergleichen wirst du tun. Du bist selbstverständlich mein Gast, wie geplant! Ich habe nicht vor, lange in dieser scheußlichen Klinik zu bleiben, und bis ich nachhause komme, wird sich María um dich kümmern.“
„Das ist bestimmt nett gemeint, aber ich halte das für keine gute Idee.“
„Warum nicht? Sehe ich etwa so krank aus?“
„Nein, du siehst sogar sehr gut aus“, beeilte sich Tessa zu versichern, „aber deine María besteht darauf, dass du Ruhe brauchst. Sie macht sich große Sorgen um dich.“
„Du meine Güte!”, schnaubte Anna, „Soll sie das nächste Mal in der Kirche eben eine Kerze mehr anzünden, dann beruhigt sie sich schon wieder.“
Tessa verbiss sich ein Grinsen. Anna Berg begann ihr zu gefallen. Die lebhafte Mimik der alten Dame faszinierte sie ebenso wie deren klares, noch immer anziehendes Gesicht.
Obwohl sie weit über Siebzig sein musste, wirkte Anna auf den ersten Blick geradezu mädchenhaft. Sobald sie jedoch lächelte oder – so wie jetzt – ärgerlich wurde, legte sich ein Spinnennetz feiner Linien über ihre Züge, das sie um Jahre älter machte.
„Ach je!”, rief Anna und warf die Hände in die Luft. „So was sollte ich nicht sagen. María ist eine liebe Seele, nur ihr religiöser Eifer kann manchmal etwas anstrengend sein.“
Tessa nickte. Auch ihr war bereits aufgefallen, dass die Haushälterin ihre Gottesfürchtigkeit auf dem Silbertablett vor sich hertrug. „Wie lange arbeitet sie denn schon für dich?“
„María? Ach, eine halbe Ewigkeit! Sie ist als ganz junge Frau zu mir gekommen, kurz nachdem…“, das kaum merkliche Schwanken in Annas Stimme ließ Tessa aufhorchen, „…kurz nachdem Bruno starb.
Die Ärmste hatte Schwierigkeiten mit ihrer Familie und wusste nicht wohin. Seitdem bin ich ihr Zuhause.“
Sie seufzte: „Allerdings beruht das wohl längst auf Gegenseitigkeit.“
Tessa begriff, dass es in Annas Leben keinen Mann, keine neue Liebe gab, und der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Er erinnerte sie an Richard.
„Also gut.“ Sie schluckte hart, um den Kloß loszuwerden, der ihr im Hals saß. „Wenn du sicher bist, dass es dir nicht zu viel wird, nehme ich deine Einladung gerne an.“
„Natürlich bin ich mir sicher“, bestätigte Anna streng, und Tessa fiel ein Stein vom Herzen. Vielleicht würde es ihr ja doch noch gelingen, etwas über das verbotene Techtelmechtel ihrer Mutter in Erfahrung zu bringen!
„Jetzt möchte ich aber erst mal von dir selber hören, war gestern Abend passiert ist.“ Vorsichtig ließ sie sich neben der alten Dame auf die Bettkante sinken. „Stimmt es, dass du nur deshalb nicht abgestürzt bist, weil du dich an einem Rosmarinbusch festhalten konntest?“
„Das stimmt.“
„Und dann kamen Leute vorbei, die dich gerettet haben?
Erzähl doch mal!“ Tessa konnte einen Hauch von Sensationslust nicht verhehlen, doch Anna klang so unaufgeregt, als berichte sie von einer Reifenpanne:
„Was gibt es da groß zu erzählen? Ich dachte noch „Jetzt ist’s vorbei mit mir“, aber dann bekam ich irgendwie den Strauch zu fassen und baumelte wie ein Sack Mehl über dem Abgrund.“
„Und dann?“
„Ich habe geschrien wie am Spieß und damit ein Pärchen beim Schmusen gestört.“ Annas Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. „Jedenfalls wirkten die Beiden ziemlich derangiert, als sie angelaufen kamen, um mich hochzuziehen.
Jetzt bin ich zwar um etliche Zentimeter Haut ärmer…“, sie hob die Bettdecke und wies auf ihre mit Verbandsmull umwickelten Schienbeine, „aber immerhin lebe ich noch.“
„Um Himmels Willen!“, rief Tessa, „Wie kannst du nur so gelassen bleiben? Für mich klingt das wie eine Szene aus einem Action-Thriller. Du hast unglaubliches Glück gehabt!“
„Auf jeden Fall scheine ich mich noch ein wenig gedulden zu müssen, bis ich Bruno wiedersehen darf“, entgegnete Anna schlicht.
Tessa stutzte. „Was soll das denn heißen? Wolltest du etwa springen und hast es dir im letzten Moment anders überlegt?“
In ihrer Frage schwang jener Argwohn mit, den sie normalerweise für die gegnerische Partei im Gerichtssaal reserviert hatte.
Anna warf ihr einen konsternierten Blick zu. „Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?“ „Warum bist du überhaupt gestürzt?“, hakte Tessa nach, „Hast du das Gleichgewicht verloren?“
„Ich bin gestoßen worden.“

„Wie bitte?“ Tessa lachte gekünstelt. Sie glaubte sich verhört zu haben.

Scheinbar gleichmütig betastete Anna das Pflaster an ihrer Schläfe. „Es war kein Unfall. Ich bin gestoßen worden.“

„Das ist ja verrückt! Wer sollte denn so was tun?“

Jäh fuhr Anna aus ihren Kissen hoch und zischte: „Er war es!“

Sie klang so hasserfüllt, dass Tessa erschrocken zurückwich.

„Wer – er?“

„Der Mann, der Bruno getötet hat!“

Tessa versuchte vergeblich, sich ihr Befremden nicht anmerken zu lassen. Es war allgemein bekannt, dass der Schlagersänger Selbstmord begangen hatte.

Aufgebracht strich sich Anna eine Locke aus dem Gesicht.

„Sieh mich nicht so an als wäre ich übergeschnappt! Ich weiß genau wovon ich rede! Jetzt wo er ein hohes Tier in der Politik ist, bekommt der Mistkerl kalte Füße. Ha!“ Sie drosch mit ihrer bandagierten Hand auf das Laken ein. Dann warf sie der Patientin im Nachbarbett einen raschen Seitenblick zu und raunte: „Sein Bürgermeisterposten reicht ihm plötzlich nicht mehr, dem sauberen Josep Puyol Marí – nun will er Inselratspräsident werden! Wenn da publik würde, dass er ein Mörder ist, wäre seine Karriere keinen Pfifferling mehr wert.“

„Und deswegen soll er versucht haben, dich umzubringen?“ fragte Tessa zweifelnd, „Warum? Wenn du deine Anschuldigung beweisen könntest, hättest du das doch wohl längst getan.“

„Damals haben es alle gewusst.“ Anna lehnte sich ermattet zurück. „Aber das war eine andere Zeit, in der andere Gesetze galten.“

Verständnislos schüttelte Tessa den Kopf. „Mord ist heute ein Kapitalverbrechen und war es damals ebenso“, begehrte sie auf. „Warum hat man diesem Puyol Marí nicht den Prozess gemacht, wenn seine Schuld als erwiesen galt?“

Anna schloss die Augen. „Ich möchte jetzt ein wenig schlafen, mein Kind“, murmelte sie. „Wir unterhalten uns morgen weiter.“

Die Audienz war beendet.

Kapitel 1.10

Als die Tür hinter ihrem Besuch ins Schloss fiel, schlug Anna Berg die Augen wieder auf. An Schlaf war nicht zu denken. Sie hatte in Tessas Gesicht all das gefunden, wovor sie sich fürchtete.

Ich brauche eine Auszeit und würde dich gern einmal wiedersehen.

Diese knappe Erklärung, mit der sich Tessa am Telefon so kurzfristig angekündigt hatte, klang Anna noch im Ohr, doch sie wusste instinktiv, dass sich dahinter mehr verbarg als Nostalgie oder die Hoffnung auf eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit.

War es möglich, dass das Mädchen etwas ahnte?

Ach was! Anna fröstelte und verkroch sich bis zum Hals unter ihrer Bettdecke, während sie auf das verblasste Poster eines karibischen Strandes starrte, das mit Reißzwecken an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Nachdem sie sich innerhalb kürzester Zeit allzu vielen längst begraben geglaubten Erinnerungen hatte stellen müssen, war es nicht verwunderlich, wenn ihr nun die Nerven durchgingen.

Unruhig warf sie sich im Bett herum, bis ihre zahlreichen Schürfwunden brannten wie Feuer. Sie musste schleunigst wieder auf die Beine kommen. Nicht nur wegen Tessa, auch der Galerist würde bald eintreffen, um den Transport von Henris

Bildern vorzubereiten.

Ein Stöhnen unterdrückend wälzte sie sich auf den Rücken und stopfte ihr Kissen im Nacken zurecht.

„¿Qué pasa?“ Ihre Mitpatientin musterte sie mitleidig über den Rand einer bunten Zeitschrift hinweg, „Soll ich die Schwester rufen? Haben Sie Schmerzen?“

„Nicht mehr, als ich aushalten kann. Ich möchte nur ein wenig ruhen.“ Anna sah flüchtig zum Nachbarbett hinüber und bemerkte, dass die junge Südamerikanerin sich gekämmt und Lippenstift aufgelegt hatte. „Bekommen Sie Besuch?“

Ein Leuchten flog über das Gesicht der Frau: „¡Claro que sí! Heute bringt mein Gonzalo seine Familie mit, die ja bald auch meine Familie sein wird, weil Gonzalo und ich im Sommer heiraten, und sie werden alle, alle auf meinem Gips unterschreiben. Auch die kleine Carmen, obwohl die noch gar nicht in der Schule ist, und–“

„Das freut mich für Sie“, unterbrach Anna und fügte trocken hinzu: „Wecken Sie mich, wenn es lustig wird.“

Ihre Bettnachbarin lachte unbekümmert: „Ay, keine Sorge, wenn mein Gonzalo mit seinen Leuten kommt, wachen Sie schon von selbst auf.“

Mit einem gequälten Lächeln wandte Anna sich ab. Sie wollte an etwas Schönes denken, etwas, das sie von ihren Sorgen ablenkte. Ihr Blick fiel erneut auf das verblichene Poster. Irgendwann mochte es ein Fernweh geplagter Patient dort angebracht haben, um sich in ein tropisches Paradies zu träumen, aber Anna, die mit halbgeschlossenen Augen im Blau des papierenen Ozeans versank, tauchte zurück in eine andere Zeit… Zurück in ein anderes Zimmer, ein anderes Bett, über dem ein anderes Poster hing… Zurück in eine Zeit, in der jeder Tag eine Wundertüte voller Möglichkeiten gewesen war.

Kapitel 1.11

München, August 1968

Anna Wagner legte ihre Modezeitschrift beiseite und schaffte sich mit einem Schwimmzug Platz zwischen den Zierkissen und Plüschtieren, die das schmale Bett in dem Pensionszimmer ihrer Freundin Ellen besetzt hielten. Als sie sich gemütlich zurücklegte, sah sie sich dem großformatigen Lächeln Bruno Bergs gegenüber, seines Zeichens Schlagersänger und Frauenschwarm.

„Bah! Ich verstehe wirklich nicht, was du an diesem Schmalzheini findest.“ Sie schnalzte abfällig mit der Zunge. „Guck dir doch nur diese bescheuerte Föhnfrisur an!“ Ellen, die ihr im Schneidersitz gegenüber saß, machte einen langen Hals, um ebenfalls das Poster ihres Idols zu betrachten: „Ach, du sei bloß still! Nur weil für dich ein Typ erst dann interessant ist, wenn er seine Haare bis zum Hintern trägt.“ Sie schwang die langen Beine vom Bett und sprang auf. In ihrem Spitzen besetzten Perlonunterkleid machte die attraktive junge Frau mit dem rabenschwarzen Bubikopf wie stets eine sagenhafte Figur. „Ich finde den Bruno jedenfalls wahnsinnig süß!“

„Der Mick hat gar keine so langen Haare“, verteidigte sich Anna, „aber er ist trotzdem unglaublich… heiß!“ Die hellblonden Locken zurückwerfend, ließ sie ihre Wimpern flattern. „Für einen Kuss von ihm würde ich sterben!“ „Oh yeah, Baby!“, stöhnte Ellen und wölbte die Lippen wie ein Fisch. „Wenn Mick Jagger dich küsst fühlt es sich bestimmt an, als würdest du durch eine von diesen neuen vollautomatischen Autowaschanlagen laufen.“

„Blöde Kuh!“ Anna warf einen Teddybär nach ihrer Freundin, doch diese beugte sich ungerührt über den Plattenspieler und ergriff den Tonarm, der am Ende der kleinen Schallplatte über die Rillen tanzte. Als sie die Nadel vorn wieder aufsetzte, drangen aus dem Lautsprecher die ersten Akkorde von Bruno Bergs brandneuem Hit Dreh dich nicht um, sonst kommt die Liebe. Aufheulend vergrub Anna ihren Kopf in den gerüschten Kissen: „Die Nummer haben wir jetzt schon dreimal gehört, willst du mein Gehirn weich kochen?“

„Ach?“ Ellen baute sich kampflustig vor ihr auf. „Und wie oft musste ich neulich bei dir Satisfaction und Jumpin’ Jack Flash über mich ergehen lassen?“

„Das ist was anderes, das sind die Rolling Stones!“ Anna wälzte sich auf den Bauch. „Hier guck mal.“ Sie griff nach ihrer Zeitschrift und hielt sie der Freundin unter die Nase: „Neues von Yves Saint Laurent.“

Skeptisch besah sich Ellen die Bilder, auf denen zaundünne Fotomodelle transparente Blusenkleider aus dem Atelier des französischen Couturiers präsentierten. Die Überschrift lautete Zurück zur Natur. „Damit kann nur der heimische Garten gemeint sein“, maulte sie. „Wenn du dich in so einem Fummel auf die Straße wagst, wirst du eingesperrt. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.“

„Dafür, dass du so einen unschicklichen Beruf hast, bis du ganz schön spießig“, neckte Anna sie in Erinnerung an die entsetzte Reaktion ihres Vaters, als sie ihm seinerzeit ihre neue Freundin Ellen vorgestellt hatte. Diese arbeitete als Mannequin für das Modehaus Herbst und ging damit aus Sicht der gehobenen Gesellschaft einem völlig inakzeptablen Broterwerb nach. Aus ähnlichen Gründen war anfänglich auch Annas Wunsch, die Modefachschule zu besuchen, bei ihrem Vater auf taube Ohren gestoßen. Nichts geringeres als ein ordentliches Studium käme für sie in Frage, hatte der angesehene Rechtsgelehrte Franz-Josef Wagner bestimmt, aber zuvor müsse sie selbstverständlich den für junge Damen obligatorischen Hauswirtschaftskurs absolvieren. Diese wenig ruhmreiche Zeit, in der ihr sogar „das Wasser auf dem Herd anbrannte“, wie ihre Lehrerin sich ausdrückte, konnte Anna nutzen, um ihren Vater umzustimmen.

Bemerkenswert unbegabt in sämtlichen Belangen der Haushaltsführung, glänzte sie während der Handarbeitsstunden mit erstaunlichem Geschick und modischem Gespür; eine Tatsache, die auch ihrem Vater nicht verborgen blieb. Am Ende hatte Anna – insgeheim sein Augenstern – nicht nur ihren Willen durchgesetzt, sondern es sogar geschafft, dass Franz-Josef Wagner die Schneiderlehre, in die sie sich mit großem Eifer stürzte, für seine ureigene Idee hielt. Annas Mappe mit Zeichnungen und Fotografien ihrer Arbeiten wuchs beständig, und als sie sich schließlich an der Münchner Modefachschule bewarb, ergatterte sie prompt einen der begehrten Plätze. Ihr Praktikum hatte sie im Modehaus Herbst in der Maximilianstraße abgeleistet, wo sie damals Ellen begegnet war, und wo sie jetzt, nach bestandener Abschlussprüfung, ihre erste Anstellung als Gehilfin der Schnittdirektrice antreten würde.

Ellen wies missmutig auf ihre überschlanken Kolleginnen in der Illustrierten: „Wenn sich dieser Twiggy-Look weiter durchsetzt kann ich bei Herbst-Moden bald einpacken.“ „Red’ keinen Unsinn! Welche normale Frau will schon aussehen wie ein Hungerhaken?“, erwiderte Anna mit einem neidvollen Blick auf den runden Busen ihrer Freundin. „Außerdem hatte die letzte Filmpartnerin von deinem Liebling da–“, sie wies mit dem Kopf auf das Poster Bruno Bergs, „eine Figur wie eine Cola Flasche. Dem würdest du also bestimmt gefallen.“

„Meinst du wirklich?“ Verträumt wickelte sich Ellen eine Haarsträhne um den Finger.

„Wenn nicht wäre er schön blöd!“

„Apropos blöd“, Ellen machte es sich wieder auf dem Bett bequem, „wie geht’s denn Hartmut dem Unfehlbaren?“

„Nervt wie eh und je.“ Bei der Erwähnung ihres zwei Jahre älteren Bruders rollte Anna die Augen. „Seit er in Papas Kanzlei eingetreten ist, kann man überhaupt nichts mehr mit ihm anfangen.“

„Ja, ich weiß“, nickte ihre Freundin, „Der Herr Rechtsanwalt Wagner Junior ist so trocken, dass es staubt, wenn er nur den Mund aufmacht.“

„Die Frau, die den mal abkriegt, ist arm dran“, unkte Anna, und Ellen kicherte:

„Wehe, sie hat ihre Unterwäsche nicht gebügelt und ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt, bevor sie mit ihm schmust!“

„Iiiih!“ Schon bei der Vorstellung, ihr Bruder könne so etwas wie ein Sexualleben haben, musste Anna sich schütteln.

Mochte auch ihr Vater mittlerweile zu der Überzeugung gelangt sein, dass Ellen entgegen aller Vorurteile das Herz am rechten Fleck hatte, so ließ Hartmut nach wie vor keine Gelegenheit aus, sein Missfallen über den vermeintlich schlechten Einfluss zu äußern, den dieses Mannequin auf seine Schwester ausübte.

„Eigentlich schade, dass er so ein Idiot ist“, bemerkte Ellen leichthin, „denn aussehen tut er ja nicht schlecht.“

„Wer? Hartmut?“ Anna musterte ihre Freundin, als habe ihr diese soeben anvertraut, dass sie für ihr Leben gern Regenwürmer aß. „Ich glaub, dir bekommt die Hitze nicht!“

„Ein schönes Stichwort.“ Ellen deutete aus dem Fenster, wo die Luft über den Dächern flirrte. „Wollen wir schwimmen gehen?“

Anna setzte sich auf. „Au ja, fahren wir rüber ins Ungererbad! Nachhause komme ich noch früh genug.“

Wenig später gondelten die beiden Mädchen in Ellens himmelblauem Käfer-Kabriolett durch Schwabing. Im Radio lief Hey Jude von den Beatles, eines ihrer Lieblingslieder, das sie lauthals mitsangen. Anna hatte die Sandalen abgestreift und ließ ihre nackten Beine in den selbst geschneiderten Bloomers – kurze Pluderhosen nach dem letzten Schrei – über die Beifahrertür baumeln. Es war Samstag, die Terrassen der Eisdielen und Straßencafés platzten aus allen Nähten, und überall tummelten sich Touristen, die ihre Fotoapparate griffbereit hielten, um neben den Sehenswürdigkeiten auch das bunte Münchner Straßenleben einzufangen.

Ellen drehte das Radio leiser.

„Sag mal, was wird denn nun aus dem Plan, uns eine gemeinsame Wohnung zu nehmen?“, fragte sie, „Immerhin verdienst du demnächst dein eigenes Geld.“

„Das schon.“ Seufzend zog Anna die Füße zurück in den Wagen. „Aber irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, Papa allein zu lassen.“

„Na hör mal, du bist dreiundzwanzig. Da ist es ja wohl normal, wenn das Vögelchen endlich aus dem Nest flattert.“

„Mein Vater hat Mamas Tod nie verwunden.“ Bei der Erinnerung an ihre Mutter, die acht Jahre zuvor einem unentdeckten Herzleiden erlegen war, seufzte Anna erneut.

„Mir fehlt sie manchmal auch noch, aber Papa… Ich glaube, er ist schrecklich einsam.“

„Er wäre ja nicht allein. Der heilige Hartmut bleibt ihm schließlich erhalten.“

Ellen quittierte die Tatsache, dass der Bruder ihrer Freundin ebenfalls noch in seinem Elternhaus lebte, mit einem mokanten Lächeln. Über den traurigen Hintergrund der Unterhaltung ging sie scheinbar gleichgültig hinweg, was an ihrem eigenen Schicksal liegen mochte. Sie hatte früh gelernt, ihr Herz vor den Härten des Lebens zu schützen. Genau wie Anna war sie kurz vor Kriegsende geboren, doch während die Wagners in München relative Sicherheit genossen, hatte Ellen bei der letzten Schlacht um Berlin beide Elternteile verloren. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte sie darauf bei Hilde, einer Cousine ihrer Mutter, die in einem dunklen, feuchten Zimmer in Berlin-Wedding hauste.

Um sich und das Balg zu ernähren, wie Hilde sagte, empfing sie nachts fremde Männer. Und obwohl das Kind für die Dauer der geschlechtlichen Verrichtungen stets mucksmäuschenstill ineiner Ecke zu sitzen hatte, blieb es nicht aus, dass gelegentlich ein Freier sein Begehren auf das hübsche Mädchen mit den dunklen Zöpfen auszuweiten suchte. Hilde, eine verlorene Seele, Opfer ihrer Zeit, war abwechselnd wütend, ängstlich oder eifersüchtig und wusste sich schließlich nicht anders zu helfen, als die Kleine fortzugeben. Aus dem Kinderheim im besetzten Berlin bis zu ihrem heutigen Leben hatte Ellen einen steinigen Weg zurückgelegt, und sie war stolz darauf.

Anna legte ihr die Hand auf den Arm. „Lass mich noch ein bisschen darüber nachdenken, ja?“

„Klar“, nickte Ellen, die nicht daran zweifelte, dass sie trotz Annas Vorbehalte bald gemeinsam Wohnungsanzeigen studieren würden.

Als unmittelbar vor ihnen eine Clique barfüßiger junger Leute in gebatikten Hemden und langen Baumwollkleidern die Straße überquerte, ohne unter ihren Stirnbändern nach rechts oder links zu sehen, musste sie so abrupt bremsen, dass der Käfer schwarze Spuren auf dem Asphalt hinterließ.

„Hey!“, fauchte sie, „Weniger kiffen, mehr gucken!“

Anna hingegen schnalzte angesichts der langhaarigen Jünglinge entzückt mit der Zunge und entlockte ihrer Freundin damit einen bösen Blick.

„Ich verstehe nicht, was du an diesen Hippies findest!“ Mit

quietschenden Reifen fuhr Ellen wieder an. „Das ist doch bloß ein Haufen Drogen-Freaks, die ihrer Faulheit ein ideologisches Mäntelchen umhängen.“

„O Mann“, Anna zeigte ihr einen Vogel, „du übertreibst mal wieder maßlos.“

Sie bogen in die Leopoldstraße ein, aber bevor sie wie gewohnt den Balkon des Eiscafés Rialto nach bekannten Gesichtern absuchen konnten, fesselte ein regelrechter Pilgerzug der von Ellen verpönten Hippies ihre Aufmerksamkeit.

„Da sind ja noch mehr von denen“, nörgelte sie. „Wo wollen die denn alle hin?“

„Die haben Spruchbänder und Musikinstrumente dabei.“

Begeistert blies Anna die Backen auf. „Mensch, da steigt bestimmt irgendwo ein Happening!“

Sie hatte kaum ausgesprochen, als der Verkehr auch schon ins Stocken geriet, weil in Höhe der Münchener Freiheit eine wachsende Menge selbsternannter Blumenkinder dabei war, die Fahrbahn in ein Straßentheater umzufunktionieren. Durch die nachmittägliche Hitze waberte der Duft von Räucherstäbchen, auf den Trambahnschienen stand eine Kiste, von der herab ein Möchtegern-Bruder Che Guevaras den Kommunismus predigte, während eine Wolke Haschisch oder Marihuana – so genau kannte Anna sich damit nicht aus – über die hupenden Autoschlangen hinweg zog. Es wurde musiziert und gesungen, gelacht und gefeiert, und da immer mehr Schaulustige herandrängten, gab es bald kein Fortkommen mehr.

„Na toll!“ Missmutig stellte Ellen den Motor ab. „Und das bei 30 Grad im Schatten.“ Sie angelte ihr Kosmetiketui aus der Badetasche, klappte den Spiegel an der Sonnenblende herunter und begann, ihr Make-up aufzufrischen.

Mit einem belustigten Blick erkundigte sich Anna: „Was wird das? Glaubst du, du triffst hier zufällig deinen Traummann?“

Ellen, die sich mit einem beigefarbenen Stift sorgfältig die Lippen nachzog, würdigte sie keiner Antwort.

Zwei Mädchen in farbenprächtigen indischen Röcken kamen die Wagenreihen entlang getänzelt, ohne sich von den Schimpftiraden der Autofahrer beirren zu lassen. Eine der Beiden trug einen Weidenkorb, aus dem sie es mit vollen Händen Gänseblümchen regnen ließ, die andere verteilte rosafarbene Flugblätter.

„Hallo Schwestern!“ Sie reichte Anna einen der Zettel und strahlte sie an: „Make love, not war!“

Über den Kühlerhauben flimmerte die Hitze.

„Wäre ich bloß hinten rum gefahren“, stöhnte Ellen, „Meinst du, wir sollen das Verdeck zumachen?“

Aber Anna war bereits in das Flugblatt vertieft: „Die Liebe geht an uns vorüber und ist in Sanftmut gekleidet“, las sie. „Doch aus Furcht fliehen wir sie und verstecken uns in der Dunkelheit.“ Sie machte eine andächtige Pause. „Das ist schön, findest du nicht?“

Ellen pflückte ein verirrtes Gänseblümchen von ihrem Kleid.

„Zeig mir einen Politiker, der sich von so einem Quatsch beeindrucken ließe.“

„Das ist kein Quatsch, sondern ein Zitat von Khalil Gibran“, erklärte Anna würdevoll. „Außerdem geht es dabei nicht bloß um Politik, sondern um eine Weltanschauung.“

„Dann verrat’ mir mal, was an dieser Weltanschauung so erstrebenswert sein soll.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete Ellen auf ein paar zottelmähnige junge Männer, die kichernd auf dem Asphalt fläzten und einen Joint kreisen ließen. „Schau dir diese Idioten doch an!“

Anna verdrehte die Augen. „Ich frage mich, womit ich eine beste Freundin wie dich verdient habe. Du kannst manchmal so … bourgeois sein!“

Sehnsüchtig ließ sie den Blick über das Geschehen auf der Straße schweifen. „Gib wenigstens zu, dass die eine Menge Spaß haben!“

„Nicht mehr lange!“ Ellen wies mit dem Kinn über ihre Schulter, wo sich zwei Mannschaftswagen der Polizei mit Blaulicht an den gestauten Fahrzeugen vorbeischoben. Ihre braunen Augen funkelten schadenfroh: „Vielleicht sind ja noch ein paar Gänseblümchen übrig, um sie unseren Ordnungshütern in die Gewehrläufe zu stecken.“

„Ach, mit dir kann man ja nicht reden!“

Besorgt beobachtete Anna, wie die Polizei begann, die Straße zu räumen. Unruhe kam auf, Buh-Rufe wurden laut, und manch hühnerbrüstiger Freiheitskämpfer entging nur um Haaresbreite den Knüppeln der Beamten. Nachdem sich der erste Aufruhr jedoch gelegt hatte, verlagerte sich das Geschehen friedlich auf die umliegenden Gehwege und Plätze, so dass die Obrigkeit dazu übergehen konnte, das Verkehrschaos in geregelte Bahnen zu lenken.

Als sich kurz darauf die Autokolonne auf ihrer Spur in Bewegung setzte, ließ Ellen mit einem Jubelruf den Motor an.

Nach wenigen Metern standen sie wieder still, dafür rückten nun die Wagen auf der Nachbarspur ein Stück vor.

Anna gab ihrer Freundin einen Schubs: „Mensch, guck mal, sogar das Fernsehen ist da!“ Sie reckte den Hals nach den Männern mit der monströsen Filmkamera, die sich an der Ecke Leopold- und Herzogstraße postiert hatten. „Wenn sie das in der Tagesschau bringen, haben Papa und Hartmut gleichwieder was, über das sie sich aufregen können.“

Aber Ellen hatte gar nicht zugehört.

„Anna!“, zischte sie, „Sieh nur!“

„Was ist?“

„B-Bruno… Da ist Bruno Berg!“

„Ich sag’s ja, dir bekommt die Hitze nicht.“

„Schau doch hin!“, wisperte Ellen, „Er sitzt genau neben uns im Auto!“ Sie schnappte sich das Flugblatt und fächelte sich nervös Luft zu.

„Du spinnst.“ Anna äugte an ihr vorbei in die todschicke Mercedes-Limousine. Auf dem Rücksitz saß Bruno Berg. Seine dunkle Tolle war unverkennbar. In einem fliederfarbenen Hemd mit spatenförmigem Kragen sah er genauso aus, wie sie ihn von der Leinwand und unzähligen Fotos kannten.

„Tatsächlich!“, rief sie verblüfft, „Der Schmalzheini wie er leibt und lebt.“

„Schschscht!“ Ellen war ganz blass geworden. „O mein Gott, o mein Gott!“ Während die Blechschlange vor ihnen ein paar Meter weiterkroch, starrte sie unverwandt zu ihrem Schwarm hinüber. „Was mache ich denn jetzt?“

Ein energisches Hupsignal ließ sie zusammenzucken.

Widerstrebend schloss sie zu ihrem Vordermann auf und verrenkte sich dabei beinahe das Genick, um den Mercedes nicht aus den Augen zu verlieren.

„Na, was sollst du schon machen!“, versetzte Anna resolut. „Du bittest ihn natürlich um ein Autogramm.“

„Das kann ich nicht!“

Die Limousine schob sich erneut neben sie. Bruno Berg, der in eine angeregte Unterhaltung mit seinem Fahrer vertieft war, bemerkte weder den blauen Käfer, noch die beiden jungen Frauen darin.

„Klar kannst du das!“ Aufmunternd tätschelte Anna ihrer Freundin das Knie. „An deiner Stelle würde ich mich allerdings beeilen, bevor sich der Stau auflöst.“

„Aber wie soll ich … Ich kann doch nicht einfach …“

„Was ist eigentlich aus deiner großen Klappe geworden?“,

Anna schüttelte den Kopf. „Soll ich rüber gehen?“

„Untersteh dich!“ Unglücklich nagte Ellen an ihrer perfekt geschminkten Unterlippe. „Vielleicht hat er ja gar keine Lust, mir ein Autogramm zu geben, oder–“

„Wenn du dich weiter so anstellst, wirst du es nie erfahren“, drängte Anna, „also los, mach schon!“

„Ok“, Ellen holte tief Luft, strich sich über den makellosen Bubikopf und hatte die Hand bereits am Türgriff, als plötzlich der Verkehr in Fluss kam. Entgeistert beobachtete sie, wie auch die Limousine anrollte.

„Nein, warte… Halt! Nicht wegfahren!“

Ihr Aufschrei übertönte sogar das Hupkonzert in ihrem Rücken, und endlich wurde der Schlagersänger auf das schöne, schwarzhaarige Mädchen mit dem schmachtenden Gesichtsausdruck aufmerksam.

„Hast du das gesehen?“, quietschte Ellen, als die Heckflossen des Mercedes an ihnen vorbeigezogen waren, „Hast du gesehen, wie er mich angelächelt hat?“

Keine der beiden Freundinnen bemerkte, dass Bruno Bergs letzter Blick durch das Rückfenster Anna galt.

Kapitel 1.12

Ibiza, Gegenwart

Hier, in dem Café auf der Plaza Vara de Rey, zu Füßen kolonialer Prachtbauten und bewacht von den Sandsteinmauern der Festungsstadt Dalt Vila, die wenige Straßenzüge entfernt auf einem Hügel thronte, schien halb Ibiza vorbei zu flanieren. Tessa, entschlossen, sich weder von ihren eigenen Schwierigkeiten, noch von dem merkwürdigen Gespräch mit Anna Berg die Laune verderben zu lassen, legte ihren Reiseführer beiseite und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Es wurde Zeit, den Herzschlag der Inselhauptstadt zu spüren, anstatt nur darüber zu lesen.

Der Kellner hatte gerade ihren Eiskaffee gebracht, als ihr Blick auf eine junge Frau mit wallenden roten Locken fiel, die die Terrasse des Cafés entlang stolziert kam. Ihre langen, wohlgeformten Beine endeten unter einem Röckchen von der Länge eines breiten Gürtels, und als sie sich über einen der Tische beugte, um dem dort sitzenden Mann ein Küsschen auf die Wange zu hauchen, sah man ihren Bikinislip blitzen. Die Frau zog sich einen Stuhl heran, und der Mann, ein unverschämt attraktiver Spanier, den Tessa auf Mitte Dreißig schätzte, sah sich suchend nach dem Kellner um.

So einen Urlaubsflirt würde ich mir auch gefallen lassen, dachte sie mit einem Anflug von Trotz, das geschähe Richard ganz Recht!

Während sie in ihrem schmelzenden Eiskaffee herumrührte, spähte sie immer wieder zu dem Tisch des jungen Paares hinüber. Der Mann saß mit dem Rücken zu ihr und war auf das Gespräch mit seiner Freundin konzentriert, die ihm – und dem Rest der Welt – üppige Einblicke in den Ausschnitt ihres Trägertops gewährte.

Neben dieser gazellenbeinigen Sirene kam sich Tessa plötzlich entsetzlich spießig vor; ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als sie in Gedanken ihre Reisegarderobe durchging. Selbst der Inhalt ihres Koffers ließ keinen Zweifel daran, dass sich ihr Leben vorwiegend um ihren Beruf drehte.

Sie zupfte unauffällig an ihrem Leinenrock, bis er ihre Knie freigab und traf einen Entschluss: Die Kultur musste warten. Erst mal würde sie einkaufen gehen.

Als sie im Gewirr der schmalen Einbahnstraßen endlich den Renault wiedergefunden hatte, hievte Tessa zahlreiche Tüten auf den Rücksitz. Wie es schien, war so ein Einkaufsbummel die ultimative Kur gegen Liebeskummer, denn sie hatte die ganze Zeit über keine Sekunde an Richard gedacht. Richard…

Prompt wurde ihr die Kehle eng. Mist! Sie knallte die Autotür zu. Der verdammte Dreckskerl!

In diesem Augenblick ertönte das Quietschen von Bremsen. „Wird da etwa ein Parkplatz frei?“, rief eine tiefe Stimme mit dezent bayrischer Färbung, die ihr vage bekannt vorkam, und sie blinzelte verdutzt zu dem staubigen, alten Geländewagen hinüber, der neben ihr angehalten hatte. Es dauerte einen Moment, bis es Tessa gelang, das Gesicht hinter dem Steuer ihrer männlichen Reisebekanntschaft aus dem Flugzeug zuzuordnen. Auf dem Beifahrersitz saß seine Tochter, die

Mundwinkel mit Resten von etwas verziert, das vermutlich einmal Schokoladeneis gewesen war.

„Ach, hallo.“ Zum ersten Mal sah Tessa den Mann bewusst an.

Meine Güte, dachte sie, hat der Kerl abstehende Ohren! Dann erinnerte sie sich an seine Frage und schüttelte den Kopf: „Nein, tut mir leid, aus dem Parkplatz wird nichts. Ich habe nur meine Einkäufe abgeladen.“

Die kleine Kathi machte sich lang, um durch das Seitenfenster zu spähen. „Wieso hast du denn auf einmal ein Auto?“, wollte sie wissen.

„Und noch dazu so ein Schmuckstück!“ Amüsiert betrachtete der Mann den R4 mit den aufgemalten Blumen.

„Familienerbstück.“ Tessa verschloss die Tür. Sie hatte keine Lust auf lange Erklärungen, außerdem fühlte sie sich seltsam irritiert. Wie konnte ein Mensch permanent so gute Laune verströmen?

Hinter dem Geländewagen wurde gehupt. „Also dann, schönen Tag noch.“ Sie wandte sich zum Gehen. „He!“, rief der Mann ihr nach. „Aller guten Dinge sind drei – beim nächsten Mal schulden’s mir einen Drink!“ Grinsend tippte er sich mit zwei Fingern an die Stirn und fuhr davon.

Tessa ertappte sich bei einem leisen Lachen. Die Tatsache, dass sie in diesem segelohrigen Deutschen bereits einen Verehrer gefunden hatte, tat gut – selbst wenn das Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Beschwingt schulterte sie ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zu ihrer Stadtbesichtigung.

Wenig später, sie stand gerade an einer roten Ampel, wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Wahlplakat gefangen genommen, das an einem Laternenmast angebracht war.

Irgendetwas an dem Plastiklächeln des darauf abgebildeten Politikers zog sie in seinen Bann, und sie registrierte kaum, wie die Ampel auf Grün schaltete. Während eine Menschentraube an ihr vorbei drängte, starrte sie auf den Namen, der sich in fetten, schwarzen Lettern quer über das Plakat zog: Josep Puyol Marí.

Es war kein Unfall. Ich bin gestoßen worden …

„Pah, so ein Schwachsinn!“ Tessa schüttelte den Kopf, um ihr Unbehagen zu verscheuchen. Sie bemerkte nicht, dass die Ampel längst wieder Rot zeigte und trat auf die Straße. Der LKW kam um Haaresbreite vor ihr zum Stehen.

Kapitel 1.13

Einige Kilometer entfernt, im Rathaus einer anderen Gemeinde der Insel, fixierte Bürgermeister Josep Puyol Marí durch sein Bürofenster mit grimmiger Miene eines seiner Wahlplakate. Irgendein Rowdy hatte in der vergangenen Nacht die Worte

¡NO CIMENT! darüber gesprayt.

Nein, mehr Zement, mehr Straßen, mehr Appartmentkomplexe oder Golfplätze wollten diese Schwachköpfe nicht, aber die Touristen, die ihnen allen das Geld brachten, wollten sie durchaus. Die Insel war mehr als reif für einen politischen Kurswechsel, und niemand anderer als er würde dabei das Ruder führen!

Entschlossen straffte Puyol die massigen Schultern, entfernte eine unsichtbare Fluse vom Revers seines Jacketts und warf einen letzten Blick auf das Plakat. Trotz seines Ärgers beglückwünschte er sich im Stillen dazu, ein so gelungenes Foto für diesen Wahlkampf ausgesucht zu haben. Er strahlte darauf jene wohldosierte Mischung aus Güte und Autorität aus, die ihm auch diesmal das Vertrauen der Wähler sichern würde.

Dass seine Familie, eine der ältesten und mächtigsten der Insel, zahllose ortsansässige Firmen ihr Eigen nannte, kam ihm dabei nur entgegen, denn all diese Hotels, Bauunternehmen oder Autovermietungen standen auch in Krisenzeiten für eine nicht zu unterschätzende Anzahl an Arbeitsplätzen. Puyol gestattete sich ein Lächeln. Laut der letzten Meinungsumfragen hatte er den Sieg so gut wie in der Tasche. Das Amt des Inselratspräsidenten lag zum Greifen nahe, er konnte die Süße seines Triumphs schon auf der Zunge spüren.

Als ihm sein Magengeschwür eine rasiermesserscharfe Klinge durch die Eingeweide trieb, ballte er die Fäuste, bis seine Knöchel hervortraten. Er hatte zu hart für seinen Erfolg gearbeitet, um ihn durch einen Skandal gefährden zu lassen, wie er sich ausgerechnet jetzt über ihm zusammenbraute! Das Geräusch einer platzenden Kaugummiblase erinnerte ihn daran, dass er nicht allein war, und er drehte sich mit einem Ruck zu seiner Tochter Sonia um, die wiederkäuend im Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch lümmelte. Ihr Rock war so kurz, dass selbst er als ihr Vater immer wieder auf ihre nackten Schenkel gaffen musste.

„Du siehst aus wie ein Flittchen von der Touristenmeile!“, donnerte er.

„Mensch, Papa“, stöhnte Sonia genervt, „das nennt man Mode! Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter.“ Die dichtbewimperten blauen Augen, aus denen sie ihn schlau musterte, mochte sie ihm und seinem maurischen Erbe zu verdanken haben, aber die sinnlichen Formen ihres spärlich verhüllten Körpers waren zweifelsohne das Vermächtnis seiner Frau – bevor diese begonnen hatte, jedem Diättrend hinterher zu jagen. Bei diesem Gedanken stieg wie eine Fata Morgana die Gestalt seiner derzeitigen Geliebten Jolande vor Josep auf, einer vollschlanken holländischen Immobilienmaklerin, in deren Armen er diskrete Erfüllung fand.

Begleitet vom Klimpern ihres silbernen Fußkettchens schlug Sonia ein Bein über das andere, und ihr Vater biss sich von innen auf die Wangen. Er musste gegen die Vorstellung ankämpfen, wie sie die Beine spreizte, um sich an jeden gierigen Bock zu verschwenden, der es darauf anlegte.

Wir müssen endlich einen Ehemann für das Mädchen finden, dachte er und wusste im selben Moment, dass dieses Ansinnen einem Kampf gegen Windmühlen gleichkam. Nicht nur, weil Sonia sich sträuben würde wie eine Straßenkatze, sondern auch weil seine Frau sich stets auf Seiten ihrer Tochter schlug.

„Also, wie viel brauchst du diesmal?“, knurrte er. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass Sonia nur bei ihm auftauchte, wenn sie knapp bei Kasse war.

„So Drei- oder Vierhundert wären toll, padrecito.“ Sie wickelte sich eine Strähne ihres langen Haares um den Finger und klimperte mit den Wimpern.

Puyol blätterte wortlos einige Scheine auf die Tischplatte, ohne zu fragen, wofür sie das Geld brauchte. Sie würde ihm ohnehin nicht die Wahrheit sagen.

„Danke.“ Sonia ließ das Geld in ihrem Umhängetäschchen verschwinden. Er konnte nur hoffen, durch seine finanzielle Zuwendung ein Mindestmaß an Kontrolle über sie zu behalten. Die dunklen Seiten der Insel waren für ein leichtlebiges Geschöpf wie seine Tochter ebenso verlockend wie gefährlich; ein Sumpf aus Alkohol, Drogen und Prostitution. Besser, sie kam zu ihm, als ebenso auf die schiefe Bahn zu geraten, wie … Stopp! Abrupt verbot sich Josep jegliche weiteren Gedanken, bevor ihn diese auf geistiges Sperrgebiet führen konnten.

Als Sonia aufsprang, um sich zu verabschieden, hielt er sich unwillkürlich übergerade und schob das Kinn vor. Er hasste es, wenn sie hohe Absätze trug. Obgleich seine vierschrötige Statur für gewöhnlich darüber hinweg täuschte, dass er kein großer Mann war, überragte sie ihn damit um einen halben Kopf. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Hasta luego, padrecito“, schnurrte sie und huschte zur Tür. Ihre Hand lag bereits auf dem Knauf, als sie plötzlich zögerte. So leise, dass ihr Vater sie kaum verstand, sagte sie: „Er arbeitet inzwischen für sein Geld.“

Auf einmal war sie wieder sein kleines Mädchen, das so bitterlich weinen konnte, wenn es einen überfahrenen Igel auf der Straße fand. Er wich ihrem Blick aus. „Das interessiert mich nicht.“

„Aber padrecito–“

„Spar dir das Theater, Sonia”, schnitt er ihr das Wort ab. „Ich will nichts mehr davon hören. Ende der Diskussion.“

Kapitel 1.14

Obwohl die Schatten inzwischen lang geworden waren, stand Tessa der Schweiß auf der Stirn. Selten war ihr eine Sitzgelegenheit verlockender erschienen, als dieser schlichte Aluminiumstuhl, der zur Terrasse einer kleinen Bar im soeben aus der Siesta erwachenden Hafenviertel La Marina gehörte. Mit einem hörbaren „Uff!“ plumpste sie hinein und schlüpfte aus ihren Schuhen, um die schmerzenden Zehen spielen zu lassen.

Ein hochgewachsener, blonder Mann in Piratenhemd, hautengen Jeans und Lederstiefeln war gerade dabei, Kissen auf den Stühlen zu verteilen. Bei Tessas Anblick grinste er erfreut und kam an ihren Tisch, um ihr eines der Kissen zu reichen.

Mit leicht gegrätschten Beinen ging er vor ihr in Stellung. „English? Deutsch? Français? Español? Suaheli?“, forschte er mit routiniertem Charme, während er vor ihrer Nase die Hände in die Hüften stützte.

„Eh…“ Tessa starrte für einen Moment auf die beachtliche Beule unter dem abgewetzten Stoff seiner Hosen. „Deutsch!“, erklärte sie hastig, „Ich spreche Deutsch.“

Das sonnengegerbte Gesicht des Mannes, in das jedes seiner sehr höflich geschätzten sechzig Lebensjahre eine Kerbe geschlagen hatte, strahlte mit dem Abendlicht um die Wette: „Hab ich mir das doch gedacht!“ Seine Ausdrucksweise und die Melodie seiner Worte verrieten eine norddeutsche Kinderstube. „Aus der fernen Heimat kommen immer noch die schönsten Frauen!“

Tessas Augen glitten über seine protzige Gürtelschnalle zu seinem bauschigen Hemd, das bis zum Solarplexus offenstand – wahrscheinlich, damit niemand den goldenen Panther übersah, der auf seiner rotbraun gebrannten Brust an der Kette lag. Sie rätselte, wie dieser Typ es geschafft haben mochte, nahezu vier Jahrzehnten modischer Evolution zu entgehen.

Allein sein Schnauzbart und das kunstvoll geföhnte Haar – vorne kurz, hinten lang – gehörten ins Museum für Stilsünden.

Mit einem lauwarmen Lächeln fragte sie: „Bekomme ich hier schon was zu Trinken?“

„Aber hallo!“, tönte der Mann, „Bei mir kriegen Sie die besten Caipiriñas der Insel!“

„Du lieber Himmel, nein!“, wehrte Tessa ab, „Ich bin halb verdurstet und habe den ganzen Tag kaum was gegessen. Bringen Sie mir nur ein stilles Wasser.“

„Nee, Wasser ist zum Waschen da!“, widersprach der hanseatische Tausendsassa. „Wie wär’s mit einem Mojito?“

„Wasser, bitte“, beharrte Tessa.

„Erdbeer-Daiquiri?“ Dafür, dass er eine solche Nervensäge war, besaß ihr Gastgeber ein erstaunlich sympathisches Lachen.

„Wasser!“

Gespielt resigniert zuckte er die Schultern. „Der Prinzessin Wille soll geschehen.“ Mit seinen langen Beinen nahm der Mann zwei Schritte für einen und verschwand im winzigen Innenraum der Bar.

Tessa lehnte sich zurück. Trotz ihrer Erschöpfung genoss sie die Atmosphäre des alten Fischerviertels, dem es gelungen war, einen Gutteil seines historischen Charmes zu bewahren, obwohl die ursprünglichen Bewohner längst den Betreibern

von Bars, Boutiquen und Restaurants gewichen waren.

Heutzutage wurde hier nur noch nach gut gefüllten Brieftaschen geangelt.

„Ein Wasser für die Prinzessin.“ Die gerüschten Hemdsärmel des Mannes streiften Tessas Unterarm, als er ein Glas und eine kleine Flasche auf ihrem Tisch abstellte.

„Danke!“ Sie stürzte die ersten Schlucke förmlich hinunter und spürte ein paar ihrer Lebensgeister zurückkehren. „Viel ist hier ja noch nicht los“, bemerkte sie mit Blick auf die spärlich vorbeitröpfelnden Passanten. „Ich dachte, La Marina wäre die heiße Meile.“

„Warten Sie mal ab, bis es dunkel wird, dann geht’s rund!“

Stolz schüttelte der Mann seine Haarpracht in den Nacken. „Aber so richtig doll wird das erst im Hochsommer, wenn die ganzen Verrückten über die Insel herfallen. Da sitzen Sie hier auf Ihrem Stuhl und meinen, Sie sind im Zirkus. Allein unsere Transvestiten…“ Seine Hände zeichneten die Silhouette einer mannshohen Sanduhr in die Luft, „richtige Sexbomben sind das! Prinzessin, ich sag Ihnen, da kann’s einem Kerl ganz anders werden, selbst wenn er nicht schwul ist!“

„Hm.“ Wenig interessiert an derlei intimen Bekenntnissen nahm Tessa noch einen Schluck Wasser. „Sind Sie neu auf der Insel?“ Ungefragt warf sich der Mann in den Stuhl neben ihrem. „Ich hab Sie hier noch nie gesehen.“

Mit einem stummen Seufzer rückte Tessa ein Stück von ihm ab. „Ja. Ich bin erst heute Morgen angekommen.“ „Na dann, herzlich willkommen, Prinzessin!“ Er griff nach ihrer Hand und schüttelte sie. „Ich bin Manfred.“ Seine Berührung war überraschend angenehm. Etwas zu lang, aber trocken und fest.

Sie entzog ihm ihre Finger. „Tessa. Vielen Dank.“

„Da nich’ für.“ Manfred sah interessiert zu, wie sie sich vorbeugte, um ihre Waden zu massieren. Dann wies er mit dem Kopf in Richtung der antiken Oberstadt. „Sie haben sich wohl direkt die große Tour gegönnt?“

„Kann man so sagen“, bestätigte sie matt. „Ich habe das Gefühl, in meinem ganzen Leben noch nicht so viel gelaufen zu sein.“

„Versuch macht kluch”, grinste er. Tatsächlich war Tessa anfangs dem von ihrem Reiseführer empfohlenen Trampelpfad durch das denkmalgeschützte Dalt Vila gefolgt, um Kirchen, Barockaltäre und den einstigen Waffenhof der Bug zu besichtigen. Irgendwann bekam sie jedoch Lust, sich treiben zu lassen. Sie kaufte sich ein Eis und erkundete die steilen, kopfsteingepflasterten Gassen auf eigene Faust. Ihr Kopf füllte sich mit einer Flut von Eindrücken, und jeder geheimnisvolle Durchlass, jede Blütenkaskade, jede Wäscheleine mit bunten Socken bot eine willkommene Ablenkung von ihren Grübeleien. Als sie am höchsten Punkt der Stadtmauer schließlich eine Pause einlegte, sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ und den weiten Blick über die Insel und das Meer genoss, überkam sie ein intensives Glücksgefühl.

Selbst jetzt, während sie mit einem Ohr Manfred lauschte, der ihr einen Vortrag über die jahrtausendealte Geschichte Ibizas hielt, konnte Tessa die Leichtigkeit jenes Moments noch spüren.

„… Leider regiert hier mittlerweile der Mammon, und auch die vielgepriesene Globalisierung ist an unserer lütten Insel nicht spurlos vorübergegangen.“ Offenbar war Manfred mit seinen Ausführungen in der Gegenwart angekommen. Beinahe trotzig fügte er hinzu: „Aber ich bleibe trotzdem! Schließlich soll eines Tages meine Asche hier ins Meer gestreut werden, auf dass sie im Bikini eines hübschen Mädchens verschwinde!“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blinzelte Tessa verschwörerisch zu.

Wider Willen musste sie lachen. „Seit wann leben Sie denn auf Ibiza?“, erkundigte sie sich. „Ach, Prinzessin, die Antwort auf diese Frage schmerzt, denn da waren Sie noch nicht mal geboren.“ Versonnen zwirbelte Manfred die Enden seines Schnurrbarts. „Exakt am 4. April 1974 um 7.32 Uhr morgens bin ich in meinem alten VW-Bus von der Fähre gerollt. Genau da, sehen Sie!“

Tessas Blick folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger zum Hafenanleger, wo soeben eine Superyacht ihren Schlund öffnete und einen Lamborghini ausspuckte.

„Damals schaukelten hier am Pier noch überwiegend kleine Holzkutter“, fuhr Manfred fort, „und längsseits saßen die Fischer und flickten ihre Netze.“ Er lächelte wehmütig. „Verwitterte, schweigsame Kerle waren das, aber mit einem Fläschchen Wein konnte man sie–“

„1974!“, unterbrach ihn Tessa gespannt, „Dann kannten Sie vielleicht sogar Bruno Berg?“

Manfred reagierte so mühelos auf den abrupten Themenwechsel, als hätte sie ihn auf einen neuen Radiosender programmiert.

„Der schöne Bruno!“, rief er, „Klar kannte ich den! Aber wenn Sie mir jetzt sagen, der wäre Ihr Typ gewesen, brechen Sie mir das Herz.“

„Er war mein Onkel“, gab Tessa der Einfachheit halber zurück. Ihre familiären Verwicklungen taten nichts zur Sache.

„Is’ nicht wahr?!“ An einem Tisch in ihrer Nähe ließen sich drei junge Italiener nieder und verlangten lautstark nach hochprozentigen Getränken, doch Manfred machte keine Anstalten aufzustehen.

„Donnerwetter, Prinzessin!“, staunte er, „Da sind Sie aber wirklich schnell angereist, um Ihrer Tante beizustehen.“

„Ach, Sie wissen schon, dass sie–?“

„Na logo, die Nachricht, dass die kleine Anna gestern Abend von der Klippe gehüpft ist, ging doch heute auf der Insel rum wie ein Lauffeuer“, tönte er. „Damals, nachdem Bruno abgemurkst wurde, haben wir hier ja alle täglich damit gerechnet, dass sie sich was antut, aber passiert ist nichts. Stattdessen hat sie dieses bedauernswerte Ibizenko-Mädchen zu sich geholt und von da an ein ziemlich zurückgezogenes Leben geführt.“ Manfreds Gesicht bewölkte sich. „Arme Anna, was muss sie in all den Jahren gelitten haben, dass sie jetzt doch noch versucht hat, sich umzubringen.“ Mit einer beschwichtigenden Geste in Richtung seiner neuen Gäste sprang er auf. „Und dann klappt das nicht mal. Ist doch Scheiße!“

„Bitte?“ Tessa hätte nicht sagen können, was sie mehr störte – seine schnodderige Art oder die Tatsache, dass sie nun schon zum zweiten Mal hörte, Bruno Berg sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. „Meine Tante wollte sich nicht umbringen!“, gab sie schnippisch zurück.

„Behauptet sie das?“ Manfreds Zweifel waren ihm deutlich anzusehen, als er sich abwandte, um die Bestellung der Italiener aufzunehmen.

Es war kein Unfall, ich bin gestoßen worden …

Hastig griff Tessa nach ihrer Flasche, schenkte sich den Rest Wasser ein und leerte ihr Glas in einem Zug. Ihre Hände zitterten. Du brauchst dringend Schlaf, sagte sie sich, du fängst schon an, Gespenster zu sehen! Ein paar Münzen auf den Tisch

werfend, stand sie auf. Manfred schien Augen im Hinterkopf zu haben, denn er drehte sich sofort zu ihr um und breitete in Operettenmanier die Arme aus. Mit seinem Rüschenhemd und den hohen Stiefeln erinnerte er Tessa tatsächlich an einen Piraten oder Musketier. „Es war schön, Sie kennen zu lernen, Prinzessin!“, rief er, nicht ohne seinen Blick wohlgefällig über ihren Körper wandern zu lassen, „Bitte beehren Sie mich bald wieder!“

„Schon möglich.“ Sie winkte ihm zu. Vielleicht würde sie tatsächlich wiederkommen. Dieser Typ schien bestens über die Insel und ihre Bewohner informiert zu sein. Bestimmt wusste er ein paar aufschlussreiche Geschichten zu erzählen.

Während sie auf dem Weg zum Auto am Hafen entlang spazierte, betrachtete Tessa mäßig interessiert das Angebot der fliegenden Händler, die Souvenirs und Schmuck feilboten. An einem Stand entdeckte sie eine mit Halbedelsteinen verzierte Silberkette, die der ihren sehr ähnlich war, und irgendwie machte sie das stolz. Es erschien ihr wie ein Beweis ihrer Zugehörigkeit zu dieser Insel, die sie noch wenige Stunden zuvor nicht einmal hatte leiden können. Verrückt!

Inzwischen waren die meisten der Bars und Restaurants geöffnet, die Gassen zusehends belebt. Als Tessa einen Haken um einen Clown schlug, der Kunststückchen mit wurstartig geformten Luftballons vorführte und die Passanten nachäffte, blieb sie in einer Gruppe Schaulustiger stecken, die sich um einen Portraitmaler scharte. Das Lächeln der gemütlichen Mittvierzigerin, die dem Mann Modell saß, war zu einer verkrampften Momentaufnahme erstarrt. Tessa schob sich zu einem Platz hinter der Staffelei durch und beobachtete, wie die Kreide in den Fingern des Malers über den Zeichenblock flog.

Zweifelsohne fertigte er eine Karikatur an, denn auf dem Papier war der leichte Überbiss seiner Kundin betont, ihre Ohren übertrieben spitz, und ihre halblange Dauerwelle verwandelte sich in eine gekräuselte Haube, die sie aussehen ließ wie ein … Schaf!

Während die Umstehenden sich königlich amüsierten, begriff Tessa nicht, warum die Frau sich freiwillig zum Narren machte. Kein vernünftiger Mensch konnte doch Spaß daran haben, andere mit der Nase auf die eigenen Schwächen zu stoßen. Ihr selbst war es schon peinlich, wenn sie nur eine Laufmasche in ihrem Strumpf entdeckte! Sie wollte gerade weitergehen, da drehte sich der Maler zur Seite und fischte eine neue Packung Kreide aus einem Bastkorb. Jäh erkannte sie in ihm den schönen Spanier wieder, der am Vormittag ihren Eiskaffee zum Schmelzen gebracht hatte. Wie vom Blitz getroffen blieb sie stehen, um ihm mit neuerwachtem Interesse bei der Arbeit zuzusehen. Er schraffierte hier, wischte dort, hob dabei immer wieder den Kopf, um sein Modell zu betrachten, und beim Anblick seines glatten, gebräunten Nackens über dem schwarzen T-Shirtkragen kribbelte es Tessa in den Fingern, ihn dort zu berühren.

Bleib auf dem Teppich, schalt sie sich, der Junge ist ja kaum trocken hinter den Ohren!

Als sie wenig später ihren Wagen aus der Parklücke manövrierte, verspürte Tessa nicht einmal ein schlechtes Gewissen wegen des Strafzettels, den sie Anna eingehandelt hatte. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und ertappte sich bei einem zufriedenen Grinsen. Wenn schon der Anblick eines attraktiven Mannes genügte, sie derart in Wallung zu bringen, schien Richards Verrat wenigstens ihrer Libido nicht geschadet zu haben …

Kapitel 1.15

Mick Jagger kratzte an der Vordertür und miaute anklagend. María, die am Küchentisch über einem Heftchenroman eingenickt war, stemmte sich von ihrem Stuhl hoch und schlappte hinüber zur Speisekammer, wo der Beutel mit dem Katzenfutter stand. Auf dem Weg nach draußen ergriff sie die Gießkanne, mit der sie den Trinknapf des Katers befüllen würde. Wie jeder seiner Vorgänger war auch dieser nach dem berühmten Rockstar benannt. María hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu wundern, denn jedes Mal, wenn eine der Katzen, die ihre Arbeitgeberin im Lauf der Jahre aufgelesen hatte, starb, tauchte von irgendwoher ein neuer Mick Jagger auf. Dieser hier war noch relativ jung. Die Doña hatte ihn erst vor ein paar Wochen in einer der öffentlichen Mülltonnen gefunden, wo er, abgemagert und übersäht mit Zecken und Flöhen, kläglich jammernd zwischen den Mülltüten lag. Mit der ihr eigenen Hingabe hatte sie das schwarzweiße Fellknäuel vom Ungeziefer befreit und aufgepäppelt, hatte seine ersten vorsichtigen Ausflüge überwacht, bis der Kleine an seine neue Umgebung gewöhnt und zutraulich geworden war. Als nun das Futter in seinen blechernen Napf prasselte, stellte der Kater die Ohren auf und sah María aus klugen Augen an. Er schien bereits gelernt zu haben, dass sie es nicht mochte, wenn er ihr schnurrend um die Beine strich oder sein flauschiges Köpfchen an ihr rieb. Für die Haushälterin, in einer Bauernfamilie aufgewachsen, waren Katzen nicht mehr als Mäusejäger. Schoßtiere hielten sich bloß die Leute in der Stadt.

Während sie zurück ins Haus ging, dachte María über Tessa nach, die in ihren Augen genau so eine Zierpflanze war, wie sie in der Großstadt wuchsen. Aber nachdem ihr die Doña aus dem Krankenhaus telefonisch Anweisung gegeben hatte, es ihrer Nichte an nichts fehlen zu lassen, musste sie sich eben damit abfinden, dass die junge Frau eine Zeit lang bei ihnen wohnen würde. Als hätten sie nicht bereits genug Probleme!

Die Haushälterin räumte das Katzenfutter wieder in die Speisekammer und angelte aus den ordentlichen Reihen der Vorräte eine neue Flasche ihres selbstangesetzten Kräuterlikörs. Schwungvoll goss sie sich zwei Fingerbreit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein Wasserglas, das sie für einen Augenblick beinahe liebevoll betrachtete, bevor sie es auf einen Zug leerte.

Ah! Sie leckte sich genüsslich die Lippen. Der Hierbas diente auf Ibiza seit Urzeiten als Erste Hilfe Mittel zur Linderung von allerlei Wehwehchen, und jede Familie besaß ihr eigenes, wohl gehütetes Rezept. So oft war María als Kind zu Vollmond ihrer Großmutter bei der Mischung jener geheimen Zubereitung aus Anislikör, Zitronenschalen, Salbei, Rosmarin und einer Vielzahl weiterer Kräuter zur Hand

gegangen, dass sie deren Herstellung im Schlaf beherrschte. In jenen Tagen, als der Arzt oftmals einen störrischen Esel anspannen musste, um seine weit über die Hügel und Täler verstreuten Patienten zu besuchen, weil wieder einmal sein altersschwaches Automobil nicht anspringen wollte, hatte sie von ihrer Großmutter das Wissen um die Heilkräfte der Natur gelernt.

Glas und Flasche noch in der Hand, trat María an die Spüle und beobachtete durch das Fenster ein Rotkehlchen, das in den Ästen des Zitronenbaums herum hüpfte. Sie seufzte schwer. Die Aufregung des vergangenen Tages steckte ihr noch in den Knochen, und ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, sich nun obendrein um diese Señorita Tessa sorgen zu müssen.

Um ihre bösen Vorahnungen zu verscheuchen, schenkte sie sich nach und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf das Gefühl, wie der Hierbas ihre Kehle hinabrann, ihr die Brust wärmte und ihren Geist klärte. Mit einem Mal erkannte sie, dass sie sich versündigte: Wenn der Allmächtige es für richtig hielt, ihnen die Nichte der Doña zu schicken, war es nicht an ihr, seine Wege anzuzweifeln!

Ihre Finger schlossen sich um das goldene Kreuz, das dicht unter dem Halsgrübchen auf ihrer Haut ruhte. In stiller Demut bat sie um Vergebung und geistige Führung, bis ein vertrautes Motorengeräusch die Rückkehr ihres Gastes ankündigte und sie aus ihrer Kontemplation riss.

Sie stellte das Glas in die Spüle, steckte im Laufen einige Strähnen fest, die sich aus ihrem schweren Haarknoten gelöst hatten, und stand gleich darauf an der Vordertür bereit, um Tessa in Empfang zu nehmen.

Buenas tardes, Señorita Wagner, da sind Sie ja! Ich wollte mir schon Sorgen machen“, rief sie herzlich. „Venga por dentro, kommen Sie ins Haus, es wird ja schon dunkel.“

„Guten Abend, María“, erwiderte Tessa. Sie hievte ihre Tüten aus dem Auto und zauberte den großen Blumenstrauß hervor, den sie auf dem Rückweg bei einem Straßenhändler erstanden hatte. „Der ist für Sie. Weil ich Ihnen so viel Extraarbeit mache.“ Die Haushälterin nahm das Gebinde aus Pfingstrosen und duftenden Orangenblüten in Empfang und wiegte es, als hielte sie einen Säugling. Ihr Gesicht strahlte vor Rührung.

„¡Ay, tontilla! Sie Dummerchen! Das war doch nicht nötig!”, ereiferte sie sich, „No era necesario!“ Resolut klemmte sie sich die Blumen unter den Arm und nahm Tessa ein paar Tüten ab. „Venga“, wiederholte sie, „jetzt zeige ich Ihnen erst mal Ihr Zimmer, und dann koche ich uns ein leckeres Abendessen.“

Trotz ihrer Leibesfülle watschelte sie erstaunlich flink zurück ins Haus, wobei sie über die Schulter ihren Gast mit Fragen bombardierte: „¿Ha pasado un buen día? Hatten Sie einen schönen Tag? Waren Sie bei der Señora im Krankenhaus? O ja, claro, ich weiß! Am Telefon hat sie mir gesagt, wie sehr Sie sich über ihren Besuch gefreut hat!“

Im Vestibül angelangt, legte sie den Blumenstrauß auf einer Kommode neben der Küchentür ab und wies auf einen Treppenaufgang, der zu einer Tür aus poliertem Olivenholz führte. „Hier entlang!“ Tessa trottete hinter ihr her. Sie war plötzlich so müde, als habe ihr jemand einen Chloroform getränkten Lappen ins Gesicht gedrückt. Nur am Rande nahm sie wahr, dass die Treppe sich hinter dem Durchgang teilte. Rechts ging es steil hinauf, geradeaus führten ein paar Stufen abwärts zu einer weiteren Tür.

¡Mira! Sehen Sie!“ María wedelte mit dem Zeigefinger vor Tessas Nase herum: „Dort hinunter gelangen Sie direkt in die Sala. Da steht auch das Telefon, falls Sie es benötigen.“ Begleitet vom klatschenden Geräusch ihrer Schlappen auf dem steinernen Boden machte sie sich an den Aufstieg ins Obergeschoss. „Las habitaciones para los huéspedes … die Gästezimmer … sind oben“, schnaufte sie. „Für Sie, Señorita Wagner, habe ich das Schönste hergerichtet, genauso wie es mir die Doña aufgetragen hat. – Meine Nichte, hat sie gesagt … mi sobrina …, soll sich wie zuhause fühlen!“

Als endlich die Tür des ihr zugedachten Zimmers vor Tessa aufschwang, war sie vom Redefluss der Haushälterin bereits so betäubt, dass sie nichts anderes sah als das ausladende Doppelbett, das unter einem Moskitonetz aus feiner Spitze auf sie wartete. Am Fußende stand ihr Koffer. Voller Stolz präsentierte ihr María das ¡Bad en suite!, während Tessa sich das Gähnen nicht mehr verkneifen konnte. Sofort schlug die Haushälterin beide Hände vor den Mund und blickte sie aus runden Augen an.

Ay, perdóneme, Señorita Wagner! Ich rede und rede, dabei sind Sie todmüde, das sieht sogar ein Blinder! Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen noch eine hübsche Platte mit Käse und Schinken heraufbringe, und dann gehen Sie schlafen?“ Sie unterstrich ihre Rede mit eifrigem Nicken, doch Tessa schüttelte nur matt den Kopf. „Y aceitunas! Oliven! Die mögen Sie doch?“

„Nein danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe heute Nachmittag in der Stadt ein belegtes Brötchen gegessen. Das muss reichen. Ich lege mich lieber gleich hin.“

„Hm. Sólo un bocadillo? Ein Brötchen? Mehr nicht?“ María musterte Tessa von Kopf bis Fuß. „Das lassen wir aber nicht zur Gewohnheit werden, cariño“, brummte sie. „Sie sind viel zu dünn!“ Wie ein zu kurz geratener Feldwebel marschierte sie zur Tür. Dort angekommen drehte sie sich noch einmal um: „Vale … Aber wenn Sie morgen früh aufstehen, mache ich Ihnen ein besonders großes Frühstück! ¿De acuerdo?“ „Abgemacht.“ Tessa musste lächeln. „Gute Nacht María, und nochmals vielen Dank.“ Eine Minute später versank sie selig seufzend in einem Berg weicher Kissen und schlief schon, während sie sich noch ihre Nachtbrille über die Augen schob.

Kapitel 1.16

Zur gleichen Zeit, der Himmel über Ibiza knipste gerade ein Meer von Sternen an, lag Anna Berg im Licht einer kleinen Nachttischlampe hellwach in ihrem Krankenhausbett. Dankbar lauschte sie dem Schnarchen ihrer Zimmergenossin, das ihren ruhelosen Geist lähmte.

In einem ländlichen Gebiet im Osten der Insel las Daniel Lux seiner Tochter Kathi und dem Plüschtier Herrn Lehmann eine Gutenachtgeschichte vor, während der schwere Kopf des Doggen-Mischlings Pluto auf seinen Füßen ruhte.

Weiter südlich, im Jacuzzi eines Luxusappartements in erster Meereslinie, vergaß Bürgermeister Josep Puyol Marí vorübergehend die Bürden seines Amtes, als er keuchend seinen nackten Körper über den der Immobilienmaklerin Jolande schob. Er ahnte nicht, dass seine Tochter Sonia just in diesem Moment von innen die Badezimmertür ihres Elternhauses verriegelte und eine Prise Kokain schnupfte, um sich in Samstagabendstimmung zu bringen.

Schürzenjäger Manfred flirtete unterdessen in seiner Bar am Hafen mit zwei silikongepolsterten Schönheiten aus dem Ostblock, während ein Stück weiter der schöne Portraitmaler eine Schweinchennase auf die Leinwand zauberte.

Unter dem selben Sternenhimmel, wenngleich zweitausend Kilometer entfernt, hielt Ellen Wagner Wache an der Seite ihres Mannes, der von der Intensivstation auf ein privates Einzelzimmer verlegt worden war. Man hatte ihn auf den Rücken gebettet, seine frisch operierten Oberschenkel ruhten in vorgeformten Schaumgummihalbschalen.

Ellen faltete die Hände im Schoß. „Wir hätten Tessa nicht so lange belügen dürfen“, sagte sie. Hartmut Wagner verzog seine Lippen zu einem blassen Strich.

„Du irrst dich, wenn du dieses Versäumnis für deinen einzigen Fehler hältst.“ Er warf seiner Frau einen eisigen Blick zu. „Alles wäre anders gekommen, wenn du und Anna damals nicht auf dieser verdammten Insel Urlaub gemacht hättet.“

Und wieder ist es mein Fehler, dachte Ellen bitter, ohne ihn anzusehen, natürlich! „Was willst du damit sagen?“, stieß sie hervor, „Bedeutet dir Tessa so wenig, dass du dir wünschst, wir hätten sie nie bekommen?“

Als sie den Schmerz sah, der in seinen Augen aufflammte, traf sie die Erkenntnis wie eine Ohrfeige: Ihr Mann war nach all den Jahren noch immer außerstande, sich selbst zu verzeihen! Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er damals entgegen seiner moralischen Prinzipien gehandelt, und erst jetzt begriff Ellen, dass sein vermeintliches Fehlverhalten Hartmut innerlich auffraß. Sie schüttelte den Kopf.

„Wen in dieser Sache Schuld trifft, kann nur unsere Tochter entscheiden.“ Entschlossen richtete sie sich in ihrem Stuhl auf.

„Tessa muss endlich die Wahrheit erfahren!“

2

Kapitel 2.1

Ibiza, August 1973

„Was soll das heißen, du magst Sex nicht?“ Anna Wagner, die gerade einen Klecks Sonnenmilch auf ihren Schienbeinen verteilte, sah ihre Freundin Ellen verdattert an.

——

„Na ja, es ist nicht so, dass ich ihn hasse“, spielte diese ihre zuvor gemachte Aussage herunter, „er ist mir nur … lästig.“ Sie befingerte das Seidentuch, mit dem sie ihre Frisur vor den Unbilden des Mittelmeerklimas schützte. Die Gläser ihrer überdimensionalen Sonnenbrille warfen das Abbild des gut besuchten Strandes zurück.

„Lästig?!“

„Ach, das ganze Schwitzen und Keuchen, und hinterher ist alles klebrig… Ganz davon abgesehen finde ich es nicht besonders anziehend, wenn sich mein Kavalier in einen brünstigen Orang Utan verwandelt.“ Die beiden jungen Frauen saßen am Wasser und ließen sich von den seichten Wellen die Füße kitzeln. Ellen kämmte den Sand mit ihren Fingern und blickte aufs Meer hinaus.

„Das gibt’s doch nicht!“, rief Anna aus, „Wir kennen uns seit sechs Jahren, seit mehr als vier Jahren wohnen wir zusammen, und jetzt willst du mir auf einmal erzählen, dass dir Sex lästig ist?“ Sie fühlte sich von ihrer besten Freundin regelrecht hintergangen, denn die hatte nie mit kessen Sprüchen gespart, selbst wenn sie sich, was Männer betraf, reichlich wählerisch gab.

Ellen, die bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben, seufzte stumm. Wie hatte sie sich nur so vom Thema abbringen lassen können? Dies war bereits der dritte Tag ihres gemeinsamen Urlaubs, und noch immer hatte sie es nicht geschafft, Anna reinen Wein einzuschenken. Der ursprüngliche Plan, ihre Ferien am Wörthersee zu verbringen, war in dem Moment verloren gewesen, als Anna in einer Zeitschrift einen Artikel entdeckte, der von einer spanischen Insel als Geburtsstätte einer neuen Moderichtung handelte. Kaum zu bremsen vor Begeisterung hatte sie Ellen vorgelesen: „In die blütenweißen Kreationen der Moda Adlib werden nach Belieben – ad libitum – Extravaganzen und Zufälle miteinbezogen, die ebenso vom fantasievollen Kleidungsstil der Hippiebewegung, wie von den bäuerlichen Trachten des kleinen Eilands Ibiza inspiriert sind.” Für Anna, längst gelangweilt von den konservativen Entwürfen, die ihren Alltag bei Herbst-Moden bestimmten, war sofort klar gewesen, dass sie diese wundersame Insel mit eigenen Augen sehen musste.

Unglücklicherweise hatte Ellen es nicht übers Herz gebracht, ihr den Wunsch abzuschlagen, und so dachte sie nun mit Wehmut daran, wie gepflegt es in Velden oder Maria Wörth zuging. Ibiza war ihr viel zu rustikal und entpuppte sich obendrein als Eldorado für Hippies und alle möglichen andere Freaks. Auch ihre Unterbringung ließ zu wünschen übrig. In dem Hotel im alten Fischerviertel mussten sie sich Bad und Toilette mit der gesamten Etage teilen, durch ihr Zimmer verlief eine Ameisenstraße, und das Frühstück bestand aus Weißbrot mit Quittengelee oder welligem Käse. An diesem Tag hatte Anna Ellen mit einem Motorroller überrascht, den man für ein paar Peseten mieten konnte, und die beiden jungen Frauen waren damit Richtung Süden, zu einem Strand in der Nähe der Salinen gefahren. Er galt als einer der schönsten der Insel, doch während sich Anna vor Begeisterung über die unberührte Dünenlandschaft kaum mehr einkriegte, beklagte Ellen auch hier das Fehlen jeglichen Komforts. Eine Dusche suchte man vergebens, und selbst die kleine Strandbude mitsamt ihrer Handvoll Tische und den Palmwedel gedeckten Sonnenschirmen nahm sich wie Treibgut aus.

Schwungvoll hob Ellen ihr Bein, um eine Kaskade sonnenglitzernder Tropfen aufspritzen zu lassen. „Gib’s zu, du wusstest genau, dass das ein geheimer Nacktbadestrand ist, oder?“, murrte sie mit einem strafenden Blick auf Annas bloßen Busen. „Ich verstehe dich nicht. Warum musst du unbedingt blank ziehen? Es gibt doch sowieso Keinen, der sieht, ob du nahtlos braun bist oder nicht.“ Sie strich demonstrativ über ihr Bikinioberteil und überzeugte sich davon, dass alles bedeckt war, was bedeckt gehörte. „Ganz davon abgesehen ist die Aussicht hier echt nicht besonders appetitlich.“

Sie hatte kaum ausgesprochen, als direkt neben ihnen ein Ball ins Wasser klatschte und ein splitternackter, stark behaarter Dickwanst herbeisprang, der den Ausreißer wieder einfing. Ellens Gesicht sprach Bände, aber Anna war noch nicht gewillt, das Thema zu wechseln: „Lenk nicht ab!“ Sie musterte ihre Freundin skeptisch. „Sex ist

dir also lästig. Bedeutet das etwa, dass du nie mit Einem ins Bett gehst?“

„Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

„Na großartig! Damit wäre immerhin geklärt, warum du einen Schlagersänger anhimmelst, während deine Beziehungen kaum das Verfallsdatum einer Tüte Milch überschreiten.“

„Meine Schwärmerei für Bruno Berg ist Schnee von gestern”, versetzte Ellen schnippisch, „Das sollte dir eigentlich aufgefallen sein.“

„Wunder gibt es immer wieder!“

Das Sonnenlicht ließ Annas hellblaue Augen fast durchsichtig erscheinen, als sie Ellen mit einer Mischung aus Neugier und Mitgefühl ansah. „Hattest du denn noch nie Spaß wenn du es gemacht hast?“, bohrte sie, „Dafür muss es doch einen Grund geben!“ Nach der Lektüre diverser New-Age-Bücher war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sich mit einem tiefschürfenden Gespräch nahezu jedes Problem lösen ließ.

Ellen schwieg. Sie wusste sehr wohl, weshalb sie Widerwillen empfand, sobald ein Mann mit ihr intim werden wollte, mochte aber nicht einmal mit ihrer besten Freundin über ihre traurigen Kindheitserinnerungen sprechen…

Ein harsches Klopfen an der Zimmertür, und Hilde scheucht die verschlafene Ellen aus dem rostigen Bett, das sie sich teilen. Die Sprungfedern quietschen. Hilde bauscht ihr Haar auf, leckt sich über die Lippen, damit sie glänzen, öffnet die Tür. Ein Mann kommt herein. Er gibt ihr Geld. Oder Lebensmittel. „Zieh dich schon mal aus“, sagt Hilde zu ihm, „ich bin gleich soweit.“ Sie tritt an das gesprungene Waschbecken, rafft ihren Unterrock und wäscht sich mit billiger Seife zwischen den Beinen. Den Geruch wird Ellen nie vergessen. Der Mann ist bereits nackt. Er setzt sich auf das Bett. Wieder quietschen die Sprungfedern. „Du!“, befiehlt Hilde, an das Kind gewandt, „Ab in deine Ecke, Finger in die Ohren und Augen zu!“ Sie löscht das Licht. Ellen macht sich auf ihrem Hocker ganz klein, tut wie geheißen. Trotzdem hört sie wie der Mann keucht und stöhnt. Ihre Augen wollen nicht geschlossen bleiben, und der Mond vor dem Fenster wird ihr unfreiwilliger Komplize. Sie kann sehen, wie der Mann sein geschwollenes Geschlecht zwischen Hildes gespreizte Schenkel stößt. Er tut ihr weh. Sein Gesäß fährt immer schneller auf und ab, es leuchtet so bleich wie Hildes Unterrock, der als zerknülltes Häuflein neben dem Bett auf dem Boden liegt. Im Zimmer riecht es nach Tier. Hilde spornt den Mann an. Sie benutzt schmutzige Worte, sagt, wie sehr ihr gefällt, was er tut, aber Ellen weiß, dass sie lügt. Bestimmt wird sie später wieder weinen.

Ellen heftete den Blick auf ein Schiff, das in tiefblauer Ferne den Horizont entlang kroch. Wie waren sie nur auf diese leidige Angelegenheit zu sprechen gekommen?

„Keine Ahnung, warum ich dabei nichts Weltbewegendes empfinde“, behauptete sie, „also hör auf, die Sache zu dramatisieren.“

„Aber–“

„Nein, Schluss jetzt!“ Abrupt stand Ellen auf. „Komm, wir gehen eine Cola trinken“, schlug sie vor. „Eigentlich wollte ich dir nämlich schon längst etwas erzählen.“

Als ihre Freundin sich den nassen Sand vom Popo klopfte, beobachtete Anna, wie die Männer ringsum Stielaugen bekamen. Ellen sah in ihrem karierten Bikini zum Anbeißen aus. Es war schwer, ihr das Blümchen rühr mich nicht an abzukaufen.

Gleich darauf rannten die beiden Hand in Hand durch den heißen Sand zum Kiosk, wo sie den letzten freien Tisch im Schatten ergatterten. Lachend und außer Atem riefen sie dem Jesus-Double hinter der Bretterbar ihre Bestellung zu.

Anna rückte das weiße Fransentuch zurecht, das sie um ihre Blöße geschlungen hatte. „Autsch!“, jammerte sie, „Nun sieh dir das an, ich hab mir schon den Pelz verbrannt!“ Die Kuppe ihres Zeigefingers hinterließ einen hellen Fleck auf ihrem geröteten Dekolleté, der nur langsam wieder verschwand.

„Oje“, entgegnete Ellen abwesend. Sie zerbrach sich den Kopf, wie sie es anstellen sollte, zu beichten, was ihr schon so lange auf der Seele lag. Egal welche Worte sie fand, ihre Freundin würde aus allen Wolken fallen.

(… weiter geht’s in der nächsten *Ibiza Live Report*-Ausgabe!)

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