
…
Mit dem Befehl des Regisseurs setzte sich auf eigens verlegten Schienen der Kamerawagen in Bewegung, um langsam den prächtigen Swimmingpool zu umrunden. Die Komparsen standen in bunt zusammengewürfelten Grüppchen auf ihren Positionen und waren angewiesen, Partystimmung zu verbreiten, obgleich sie sich nur gedämpft unterhalten durften, und der Sekt in ihren Gläsern sich als Sprudelwasser mit Apfelsaft entpuppt hatte. „Das wurde auch Zeit!“, murrte Ellen durch die zusammengebissenen Zähne ihres besten Mannequin-Lächelns. „Wenn ich gewusst hätte, dass wir uns hier nur die Beine in den Bauch stehen, wäre ich zuhause geblieben.“ Sie zog die Jacke ihres flaschengrünen Hosenanzugs glatt, in dem sie trotz der staubigen Fahrt auf dem Motorroller aussah wie einem Modemagazin entstiegen.
Tatsächlich hatten sie seit ihrer Ankunft, die bereits Stunden zurücklag, nichts anderes getan als zu warten, sich die Nasen ab pudern zu lassen, weiter zu warten, etwaige Modesünden der anderen Statisten zu diskutieren, eine gestrenge Einweisung über sich ergehen zu lassen – und wieder zu warten. Währenddessen herrschte ringsum das organisierte Gewimmel eines Ameisenhaufens. Quer durch die tropisch anmutende Gartenanlage waren endlose Meter Kabel verlegt, immer neue Scheinwerfer wurden herbeigetragen, Kulissen hin und her geschoben und Anweisungen gebellt. Anna hob ihr Glas. „Nun hab dich nicht so“, entgegnete sie, „ich finde es spannend, mal zu erleben, wie so ein Kinofilm gemacht wird.“
„Was soll spannend daran sein, stundenlang zuzusehen, wie ein paar Lampen durch die Gegend geschleppt werden?“
„Ach komm, hier lässt es sich doch wirklich aushalten.“ Annas Blick wanderte bedeutungsvoll von der Poolterrasse, die wie ein Vogelnest in den Klippen über dem Meer hing, zu der Villa hinüber, in der die Filmcrew ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Die anderen Komparsen an ihrem Stehtisch nickten einträchtig, aber Ellen seufzte.
„Und was haben wir von dem ganzen Luxus? Nichts!“ Just in diesem Augenblick fuhr die Kamera an ihnen vorüber und fing den sehnsüchtigen Ausdruck ein, der über ihr Gesicht huschte: „Stellt euch mal vor, man könnte in einem solchen Haus seinen Urlaub verbringen!“
„Na, wenn’s weiter nichts ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.“ Anna grinste. Dann neigte sie sich zu ihrer Freundin hinüber: „Außerdem hast du ja bald einen Ehemann, der Dir bestimmt gern jeden Wunsch erfüllt.“, stichelte sie leise. Sie wusste noch immer nicht, was sie von der Liaison zwischen Ellen und ihrem Bruder halten sollte, die bereits im vergangenen Dezember ihren Anfang genommen hatte. Laut Ellen waren sich die Beiden zufällig auf dem Marienplatz begegnet, wo Hartmut sie im Gewühl des Weihnachtsmarktes buchstäblich über den Haufen gerannt hatte. Ihre Handtasche flog dabei in hohem Bogen durch die Luft, der Inhalt ergoss sich in den Schneematsch. Trotz aller Animositäten, die zwischen ihnen herrschten, besann sich Hartmut seiner Manieren und hockte sich neben die verärgerte Ellen auf den Boden, um ihr beim Einsammeln ihrer Habseligkeiten zu helfen. Als sie gleichzeitig nach demselben Lippenstift griffen, berührten sich ihre Hände, ihre Blicke trafen sich, und in diesem Moment war es um sie geschehen. Während sie mit jäh geröteten Wangen und klopfenden Herzen versuchten, dieser Haarnadelkurve des Schicksals zu folgen, suchten sie das nächstgelegene Café auf, wo sie sich über ihre unberührten Kuchenteller hinweg aus großen Augen ansahen und probeweise Händchen hielten. Seit diesem Tag waren sie – selbst wenn Anna diesbezüglich jede Vorstellungskraft fehlte – ein Paar.
Ellen zog es vor, auf die spitze Bemerkung ihrer Freundin nicht zu antworten und lächelte in die Runde der Mit-Komparsen an ihrem Tisch. Ein dandyhafter Alain Delon-Verschnitt, der von Anfang an versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, hielt seine Chance für gekommen:
„Worum geht’s eigentlich bei dem Streifen?“, fragte er sie, doch bevor Ellen antworten konnte, mischte sich eine Kaugummi kauende Blondine mit üppigem Dekolleté ein: „Keine Ahnung.“ Sie warf ihre Federboa über die Schulter und blinzelte träge in die tief stehende Sonne. „Aber irgendwer hat erzählt, dass angeblich der Roy und die Uschi die Hauptrollen spielen. Wär das nicht cool?“ Ihren blass geschminkten Lippen entwuchs eine rosa Kaugummiblase.
„Cut!“, brüllte der Regisseur. „Sehr schön. Das machen wir gleich noch mal. Alles auf Anfang!“ Nach drei weiteren Wiederholungen war die Einstellung im Kasten. Als nächstes stand eine Szene mit den Stars des Films auf dem Drehplan, für die zuvor Licht und Kamera umgebaut werden mussten. „Verdammte Stehparty“, kommentierte diesmal Anna die Wartezeit, „meine Füße bringen mich noch um!“ In dem sinnlosen Versuch, die Schwerkraft auszutricksen, stakste sie von einer der ungewohnt hohen Hacken auf die andere.
„Warum habe ich mich bloß von dir zu diesen Schuhen überreden lassen?“
„Weil es die einzigen waren, die zu deinem neuen Kleid passen“, entgegnete Ellen, während sie huldvoll ein frisches Glas Sprudel mit Apfelsaft entgegennahm, das Alain Delon für sie organisiert hatte. „Du siehst märchenhaft aus. Also gib Ruhe!“
Bei einem Bummel durch die Gässchen der Altstadt Ibizas hatten sie zu Annas Entzücken eine Boutique mit Kreationen der Adlib entdeckt, jener Moderichtung, deren Ruf sie auf die Insel gefolgt waren. Ihr neues Kleid, ein schneeweißer Traum mit eingesponnenen Lurexfäden, die in allen Regenbogenfarben glitzerten, schien nur auf sie gewartet zu haben. Sie bereute einzig den Kauf jener als Sandaletten getarnten Folterinstrumente, die sie ganz sicher noch heute Abend der Mülltonne überantworten würde.
Als sie bemerkte, dass hinter der Kamera zwei Segeltuchstühle aufgestellt worden waren, denen außer ihr niemand Beachtung schenkte, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie gab Ellen, die noch die Annäherungsversuche ihres Verehrers parierte, ein Zeichen und stöckelte los, um sich eine der kostbaren Sitzgelegenheiten zu sichern. Ah, himmlisch!
Die Beine behaglich von sich gestreckt, beobachtete Anna, wie Tom, der Assistent des Aufnahmeleiters, in seinem Hochwasser-Jeansanzug zwischen den Palmen umher lief, während er gleichzeitig etwas in sein Notizbuch kritzelte. Plötzlich riss er sein Walkie-Talkie ans Ohr, nickte eifrig und stürzte los, um sich am Fuß der Treppe aufzustellen, die zur Villa führte. Als er die blendend attraktive junge Dame in Empfang nahm, die die Stufen herab geschritten kam, hatte sich sein Gesicht farblich längst dem Sonnenbrand auf seiner Nase angeglichen. Sein Mund klappte auf und zu wie bei einem Karpfen, und Anna hätte schwören können, dass ihm soeben ein „Alles groovy“ im Hals stecken geblieben war. Unter den Komparsen erhob sich aufgeregtes Raunen. Sie alle kannten Carlotta Baron, die als neuer Stern am deutschen Kinohimmel gefeiert wurde. Den Gerüchten zum Trotz, war anscheinend sie die weibliche Hauptdarstellerin dieses Films. Mit schmachtendem Blick geleitete Tom die Schauspielerin nun in Richtung des Regisseurs, einem massigen Kahlkopf mit wehendem Seidenschal, der neben der Kamera stand und sie mit ausgebreiteten Armen erwartete:
„Carlotta, meine Liebe, du siehst wie immer zauberhaft aus!“ „Danke, Theo-Schatz, aber denkst du nicht, dass dieser Fummel ein wenig aufträgt?“, entgegnete Carlotta und drehte sich einmal um die eigene Achse, damit keinem der Anwesenden entging, wie vorteilhaft das feuerrote Cocktailkleid ihre Figur zur Geltung brachte. Anna auf ihrem Logenplatz grinste, als sie sah, wie Tom der Mund offen stehen blieb. „Mein liebes Kind, du bist kokett“, tadelte Theo Wintermann, Macher so bedeutender Filmwerke wie Touristen sind immer die anderen oder Dreh dich nicht um, sonst kommt die Liebe. Mit einem Kopfnicken wies er auf die beiden Segeltuchstühle: „Nimm doch noch einen Moment Platz, bis–“ Er entdeckte Anna und erstarrte zu einem Monument der Empörung. „Wer bist du denn?“, donnerte er, „Was zum Teufel bildest du dir ein?“
Schlagartig verstummten sämtliche Gespräche, und es wurde so still, dass man eine von Carlottas falschen Wimpern hätte zu Boden fallen hören können. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Anna, die verwirrt zu dem zornigen Mann hinaufblinzelte.
„Ich verstehe nicht…“
„Ach, Goldlöckchen versteht nicht!“, schnauzte er, „Setzt sich mit ihrem mageren Komparsen-Hintern auf den Stuhl eines Stars und versteht nicht!“ Die Stimme des Regisseurs schwoll im gleichen Maße an wie die Ader auf seiner Stirn.
„So beruhige dich doch, Theo.“ Wenigstens Carlotta blieb gelassen. „Die Kleine wollte sich bestimmt nur wichtigmachen.“
Anna, die kaum wusste, wie ihr geschah, sprang auf. „Ich konnte ja nicht ahnen –“
„Ahnen, ahnen!“ Theo Wintermann brüllte jetzt und fuchtelte ihr mit seinem dicken Zeigefinger unter der Nase herum. „Da hinten auf den Rückenlehnen stehen die Namen unserer Hauptdarsteller! Kannst du nicht lesen?“
„Hinten? Tut mir leid, dass ich keine Röntgenaugen habe!“, gab Anna schnippisch zurück. Sie wollte gerade Luft holen, um diesem Büffel zu erklären, wo er sich seinen Film hinstecken könne, als ihr Blick auf Ellen fiel. Hatte diese eben noch ausgesehen, als schäme sie sich für ihre Freundin in Grund und Boden, so wirkte sie nun wie vom Blitz getroffen. Ihre Augen klebten an einem Mann, der sich unbemerkt zu der kleinen Gruppe neben der Kamera gesellt hatte.
„Mach mal halblang, Theo!“ Der Mann legte dem Regisseur freundschaftlich einen Arm um die Schulter. „Oder fürchtest du etwa, mein Stuhl könnte unter diesem Federgewicht zusammenbrechen?“
Anna hielt die Luft an. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn Ellen ohnmächtig geworden wäre.
Vor ihnen stand Bruno Berg.
Kapitel 2.4
Ibiza, Gegenwart
Vogelgezwitscher! War etwa endlich der Frühling in München eingekehrt?
Obwohl sie nur langsam wach wurde, erschien Tessa diese Möglichkeit so unwahrscheinlich, dass ihr prompt wieder einfiel, wo sie sich befand, und das Gewicht ihrer Probleme senkte sich wie ein Betonklotz auf ihre Brust.
Wie sollte sie einen weiteren Tag voller ungelöster Fragen überstehen, wie sich abermals Richards Vertrauensbruch stellen, wenn bereits der Gedanke daran das Gefühl totaler Erschöpfung in ihr auslöste? Sie kroch unter die Decke und zog sich ein Kissen über den Kopf, nur um es kurz darauf wieder von sich zu werfen. Das muntere Gezwitscher draußen störte sie in ihrem Selbstmitleid. Entnervt schob sie ihre Schlafbrille hoch, schwang die Beine aus dem Bett und warf einen Blick auf ihre
Armbanduhr. Halb zehn! María hielt sie bestimmt schon für die Liederlichkeit in Person.
Die Lamellen der Jalousien zeichneten ein sonniges Streifenmuster auf den Fußboden, das an Tessas Füßen leckte, als sie durch den Raum tappte, um die Fensterflügel aufzustoßen. Tief atmete sie die warme, von Pinienduft erfüllte Luft ein und ließ den Anblick des strahlend blauen Himmels auf sich wirken, der sich weit über Wälder, Hügel und Wiesen spannte. Wie friedlich es hier ist, dachte sie.
Sie trat zurück ins Zimmer, wuchtete ihren Koffer aufs Bett und begann auszupacken. Ihr seelisches Tief hatte sich verzogen. Entweder vermochten elf Stunden Schlaf und ein wenig unberührte Natur Wunder zu vollbringen – oder sie würde sich daran gewöhnen müssen, dass ihre Stimmungen neuerdings schneller wechselten als der Mond. Frisch geduscht, ein sommerliches Kleid übergeworfen, verließ Tessa wenig später ihr Zimmer und versuchte, sich die Worte der Haushälterin ins Gedächtnis zu rufen, die ihr am Vorabend den verwinkelten Grundriss Can Cantante Alemáns erklärt hatte.
Da das Haus über dreihundert Jahre hinweg immer wieder erweitert worden war, folgte seine Bauweise einer Logik, die sich niemals auf einem Reißbrett finden ließe. Im Angesicht der buckligen, gekalkten Wände, der gemauerten Stufen und niedrigen Durchgänge kam sich Tessa vor, als befände sie sich auf einer Reise in die Vergangenheit. Ein Eindruck, der sich noch verstärkte, sobald sie die Sala des Hauses betrat. Die Finger um das Geländer des Treppenabsatzes gelegt, ließ sie aus einer Höhe von etwa zwei Metern ihren Blick durch den ehrfurchtgebietenden Raum schweifen.
Auch hier fand sich eine Decke aus Balken des Phönizischen Wacholders, sowie zwei der hoch liegenden, vergitterten Fensterluken, wie sie Tessa bereits in der Küche aufgefallen waren. Die Mitte der Außenwand beherrschte ein majestätisches Portal aus Olivenholz, dessen Flügel offen standen und den Blick auf eine überdachte Terrasse freigaben. Das einfallende Sonnenlicht verwandelte den umher schwebenden Staub in tanzende Glühwürmchen und hob eine mächtige, hölzerne Truhe aus dem Schatten, auf der ein antiquiertes Wählscheibentelefon thronte. In die Mauer darüber war ein mit Büchern vollgestopftes Regal eingelassen, daneben stand eine Stehlampe mit Fransenschirm. Ein strohbespanntes Bauernstühlchen nahm sich wie ein Dekorationsstück aus, dessen Zwilling am anderen Ende der Sala zu Füßen einer weiteren Treppe stand, die offenbar zu einem Seitenflügel Can Cantante Alemáns führte. Da sie brav ihren Reiseführer studiert hatte, wusste Tessa, dass die Sala, gleichermaßen Eingangsbereich und Herz eines jeden traditionellen ibizenkischen Hauses, stets als erstes errichtet worden war, gefolgt von der Küche, den Schlafzimmern, Vorratskammern, sowie verschiedenen Arbeitsräumen und Stallungen. Einst stellte ein solches Bauerngehöft, das mitsamt seinen Ländereien Finca genannt wurde, die Versorgungsgrundlage der ganzen Familie dar, welche nahezu alles, was sie zum Leben brauchte, selbst produzieren musste. Sobald sich die Sippe vergrößerte, wurden weitere Räume an- oder darauf gebaut, woraus die charakteristischen, ineinander verschachtelten Kubus-Formen entstanden.
Wie viele Generationen mochten bereits in diesem Haus gelebt haben? Was für Schicksale hatten die meterdicken Mauern gesehen, bevor sie einen der größten deutschen Schlagersänger beherbergten, dessen Witwe noch heute um ihn trauerte? Während Tessa die letzten Stufen in die Sala hinabstieg, verspürte sie eine geradezu kindliche Neugier. Can Cantante Alemán roch förmlich nach Geheimnissen, die es zu entdecken gab! Aus Richtung der Terrasse ertönte das Klappern von Geschirr. Sie wollte dem Geräusch gerade nachgehen, als sie neben dem Telefon ein gerahmtes Foto entdeckte, dessen Motiv die junge Anna und Bruno Berg zeigte. Über eine blumenübersäte Wiese liefen die Beiden Hand in Hand auf den Betrachter zu. Die Aufnahme wirkte mehr als kitschig und erinnerte Tessa an eine 1970’er-Jahre Werbung für Margarine. Doch als als sie genauer hinsah, begriff sie, dass die zur Schau gestellte Lebensfreude des Paares echt zu sein schien.
Es war kein Unfall. Ich bin gestoßen worden …
Tessa stellte das Foto so hastig zurück, als habe sie sich die Finger verbrannt. „Keine Verschwörungstheorien auf nüchternen Magen“, murmelte sie und war dankbar, dass in diesem Augenblick María von der Terrasse herein kam.
„Ay, guten Morgen, Señorita Wagner!“, rief die Haushälterin,
„¿Ha dormido bien? Haben Sie gut geschlafen?“ Auch heute trug sie Badeschlappen und einen bunt gemusterten Kittel.
„Guten Morgen, María. Ja, danke, wie ein Stein.“
„Wie ein Stein? Qué bien!“ Die kleine Spanierin strahlte, als habe sie Tessa eigenhändig in den Schlaf gewiegt. „Cómo un tronco, sagen wir.“ Munter wies sie nach draußen. „Ich habe Ihnen den Tisch auf der Terrasse gedeckt, das Frühstück ist in fünf Minuten fertig. ¿Quiere algo especial? Haben Sie besondere Wünsche?“
Abwehrend hob Tessa die Hände: „Machen Sie sich bitte keine Umstände! Mein Frühstückshunger ist nie besonders groß.“
„¡No, no, no! Sie müssen Hunger haben. Natürlich haben Sie Hunger! Ya verá, Sie werden schon sehen! Und jetzt husch, hinaus in die Sonne mit Ihnen. Sie sind nicht nur zu dünn, sondern auch viel zu blass!“
Tessa salutierte scherzhaft und wartete, bis die Haushälterin in der angrenzenden Küche verschwunden war. Dann trat sie neugierig auf die Terrasse hinaus, die von einem überdachten in einen offenen Bereich und von dort in die Natur überging.
An der säulengestützten Balustrade rankte eine mächtige, purpurfarbene Bougainvillea bis zum oberen Stockwerk hinauf. Ihre Blüten hoben sich leuchtend vom Weiß der Mauern ab und beschatteten zur einen Seite eine Sitzgruppe aus Korbmöbeln, auf der anderen einen gewaltigen Tisch, der wie dafür geschaffen schien, mit Freunden und reichlich gutem Essen eine warme Sommernacht zum Tag zu machen. Das einzelne Gedeck, das María aufgelegt hatte, wirkte darauf so verloren und traurig, dass Tessa entschied, sich die Zeit bis zum Frühstück mit einem Spaziergang zu vertreiben. Der Pfad in den Garten führte zwischen mediterranen
Sträuchern, Bäumen und liebevoll nachlässig angelegten Blumeninseln entlang. Wieder empfand Tessa den Frieden, der von diesem Ort ausging, als ihr auf einmal ein kaum merklicher Chlorgeruch in die Nase stieg. Gleich darauf fand sie sich vor einer Landschaft aus Felsen und Natursteinen wieder, in die ein nierenförmiger Swimmingpool eingebettet war. Winzige Mosaikfliesen ließen das Wasser smaragdgrün leuchten, und Tessa verspürte den unwiderstehlichen Drang, sofort hineinzuspringen. Sie schlüpfte aus einer ihrer Sandalen, um mit dem großen Zeh die Wassertemperatur zu prüfen, als sie hörte, wie María nach ihr rief. Bedauernd zog sie den Schuh wieder an.
Auf dem Weg zurück zum Haus schob sich jäh eine bullige Gestalt aus dem Gebüsch und versperrte ihr den Weg. „Haben Sie mich erschreckt!”, japste Tessa.
Der Mann reagierte nicht. Er hielt den Griff einer Axt umklammert, die auf seiner Schulter ruhte und starrte sie unter zusammengezogenen schwarzen Brauen misstrauisch an. Vermutlich ein einheimischer Arbeiter, der kein Deutsch sprach, dachte sie und versuchte es mit Höflichkeit: „Buenos días. Yo soy Tessa Wagner, la sobrina de Señora Berg.“
Doch der Mann machte keine Anstalten, ihren Gruß zu erwidern, sondern senkte den Blick. Seine ausgeprägte Kinnpartie mahlte. Plötzlich verlagerte er das Gewicht der Axt, wandte sich um und verschwand wieder in den Büschen.
„Señorita Wagner!“, erschallte erneut Marías Operettenfalsett,
„Wo bleiben Sie denn? Donde está? Es wird ja alles kalt!“
Geröstetes Landbrot mit Olivenöl, Tomaten und Schinken, so hauchdünn geschnitten, dass man fast hindurch sehen konnte. Mild duftender Ziegenkäse. Dampfendes Rührei mit Paprika, Zwiebeln und frischen Kräutern. Süße Blätterteigteilchen mit Cremefüllung, dazu frisch gepresster Orangensaft und reichlich Kaffee. Tessa glaubte sich im Schlemmerhimmel.
„Nein, María, Hilfe!“, schützend hielt sie ihre Hände über den Teller, um zu verhindern, dass die Haushälterin ihr eine weitere Portion Rührei darauf häufte. „Wenn ich noch einen Bissen esse, explodiere ich.“
„Hm“, María musterte sie prüfend, dann nickte sie: „Da weiß ich genau das Richtige!“ Mit diesen Worten schlappte sie eilig ins Haus und kehrte gleich darauf mit zwei wohlgefüllten Schnapsgläsern zurück, von denen sie eines vor ihrem Gast abstellte.
„Hier! Trinken Sie das. Es muy sano, sehr gesund! Auch für die Verdauung.“
„Was ist denn das?“
„Hierbas“, antwortete die Haushälterin, als sei damit alles erklärt.
Misstrauisch schnupperte Tessa an der öligen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit. „Alkohol? Am helllichten Morgen?“
„Ach was“, María schüttelte missbilligend den Kopf, „es un remedio, ein Heilmittel. Wie … medicina!“ Sie setzte sich an den Tisch und hob ihr Glas. „Salud!“
„Salud.“ Ergeben kippte Tessa den Kräuterlikör hinunter. María strahlte in mütterlichem Stolz, und Tessa merkte, dass sie gar nicht anders konnte, als die kleine Frau ins Herz zu schließen.
„Haben Sie Kinder?“, fragte sie arglos. Die Haushälterin blinzelte überrascht.
„No“, sagte sie. Dann senkte sie den Blick. „Una vez … Einmal… war ich in Hoffnung. Aber der Herr hat es zu sich geholt, noch bevor es seinen ersten Schrei tun konnte.“ Sie schloss die Finger um das Kreuz an ihrer Halskette. „Fue un niño … Es war ein
Junge. Er liegt auf dem Friedhof von San Mateo begraben.“
„Das tut mir leid.“ Tessa bereute ihre Indiskretion. „Ich bin sicher, Sie wären eine wunderbare Mutter gewesen.“ María schwieg einen Moment, dann verzogen sich ihre
Mundwinkel zu einem Lächeln. „In seiner Weisheit hat ER mich für eine andere Aufgabe auserwählt“, sagte sie sanft. „Ich darf mich um Ihre Tante kümmern.“
Tessa war gerührt. Gerade überlegte sie, ob es unpassend sei, die Haushälterin in den Arm zu nehmen, als diese sich erkundigte: „Wie fanden Sie die Doña denn gestern en el hospital? War sie klar?“
„Sie hält sich überraschend gut“, erwiderte Tessa, „allerdings hat sie eine ziemlich merkwürdige Vermutung geäußert.“
María wirkte besorgt. „¿Por qué? Was hat sie gesagt? ¿Qué dijo?“
Doch als sich Tessa an die gallebitteren Anschuldigungen Anna Bergs erinnerte, war sie plötzlich nicht mehr sicher, ob sie der Haushälterin überhaupt von dem Vorfall im Krankenhaus erzählen sollte. Andererseits konnte deren Einblick in die Psyche ihrer Arbeitgeberin womöglich ein wenig Licht in diese sonderbare Geschichte bringen.
Nach kurzem Zögern erklärte sie: „Señora Berg ist davon überzeug, dass ihr Sturz kein Unfall war, sondern dass jemand versucht hat, sie zu ermorden.“
María schlug die Hände vor den Mund und sah Tessa aus entsetzten Augen an.
„Das hat sie gesagt?“, flüsterte sie, „¡Qué horrible! Schrecklich!
Seit ihr Mann gestorben ist, lassen ihr diese Dämonen keine Ruhe.“
„Weil sie glaubt, dass auch Bruno Bergs Tod kein Unfall gewesen ist?“
„Die Señora hat ihn sehr geliebt, ihren Bruno, das müssen Sie wissen, Señorita Wagner. Era su gran amor… Nicht viele Menschen dürfen eine solche Liebe erleben. Fue un regalo, ein wahres Geschenk! Deshalb kann sie ihn nicht loslassen und quält sich mit diesen Gedanken.“
„Sie hat sogar einen Verdacht“, ergänzte Tessa. „Angeblich wurden beide Anschläge von einem auf der Insel ansässigen Politiker namens Josep Puyol Marí verübt.“ Ihre Stimme klang streng. Um ein Haar hätte sie vergessen, dass sie sich nicht in einem Gerichtssaal befand.
Die Haushälterin seufzte tief. „Lo sé … Ich weiß das. Aber Josep Puyol Marí ist ein hochangesehener Bürger, der –“
„Denken Sie, dass Anna ein bisschen wunderlich ist und sich das alles nur einbildet?“, unterbrach Tessa und ließ vielsagend einen Zeigefinger über ihrer Schläfe kreisen.
„¡No, para nada! So etwas würde ich niemals denken! !Nunca! Ich glaube nur… la Señora no puede aceptar, que …“ Den Rest des Satzes ersetzte sie durch einen zitternden Seufzer.
„Was kann Señora Berg nicht akzeptieren?” Tessa beugte sich gespannt vor, doch María schüttelte den Kopf: „Es ist nicht richtig, über die Privatangelegenheiten der Doña zu sprechen!“ Sie begann, geräuschvoll das Geschirr zusammen zu räumen. „Wie gefällt Ihnen denn der Garten? Und das Schwimmbad, la piscina? ¿Maravillosa, schön, no?“
„Sehr schön, ja.“ Widerstrebend fügte sich Tessa in den abrupten Themenwechsel. Dann fiel ihr etwas ein: „Vorhin ist mir übrigens ein Mann begegnet, ein richtig grober Klotz. Der hat keinen Ton gesagt, sondern mich nur angestarrt und so ein grimmiges Gesicht gemacht, dass ich Angst hatte, er zieht mir gleich eins mit seiner Axt über. Wer war denn das?“
„Ah, no se preocupe, keine Sorge“, entgegnete María wegwerfend, „Das war nur Joan. Er ist furchtbar maulfaul. Die Señora hat ihn als Gärtner und Hausmeister angestellt, weil ihn sonst niemand haben wollte. Der Ärmste ist ein Bambú. So nennen wir hier die Kinder, deren Eltern verwandt sind.“ Mit einem raschen Blick gen Himmel schlug sie das Kreuzzeichen, bevor sie dramatisch die Stimme senkte: „Blutschande, ¿entiende? Darum ist Joan… Also der ist wirklich ein bisschen …“
Sie tippte sich an die Stirn und nahm mit Schwung das vollbeladene Tablett auf. „Vale, Señorita Wagner, wenn Sie noch etwas brauchen, finden Sie mich in der Küche. Ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag!“
+++ Das wünschen wir auch – und weiter geht’s in der März-Ausgabe!+++
Was bisher geschah:
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