…
Auf dem Videobild hatte sie noch vor ihm die Frau bemerkt, die in seiner Terrassentür aufgetaucht war. „Wer ist das denn?“, schnappte sie. Er drehte sich um. Mist! „Des is’… ähm… meine Nachbarin.“ „Das Mauerblümchen?“ Anklagend musterte Vanessa die rassige Spanierin in abgeschnittenen Jeans und Bikinitop. „Ich glaub ich spinne! Warum lügst du mich an? Hast du was mit der!“
„Du redest so einen Schmarrn!“ Daniel war froh, dass Violeta kein Wort Deutsch verstand. „Ich hab weder was mit ihr, noch mit einer Anderen, also–“ „Ich mach jetzt Schluss“, zischte sie. „Sag Kathi, ich rufe später noch mal an.“ Doink. Damit hatte sie den virtuellen Hörer auf die Gabel geworfen.
„Wer war das denn?“, wollte nun Violeta wissen.
„Meine Ex“, brummte Daniel.
„Die war aber mies drauf.“ Wie selbstverständlich kam seine Nachbarin ins Wohnzimmer geschlendert. „Klang, als hätte sie dir eine Szene gemacht.“ Er zog eine Grimasse. „So is’ sie halt.“
„Aber wieso? Ich dachte, ihr seid getrennt.“ Seine Nachbarin musterte ihn herausfordernd. „Oder läuft da etwa wieder was?“
„O Gott“, stöhnte Daniel in gespielter Verzweiflung, „jetzt fängst du auch noch an!“ Da er sich so über Vanessa ärgerte, fiel ihm nicht auf, dass Violetas Frage keineswegs scherzhaft gemeint war.
Er haderte mit sich. Warum hatte er gesagt, es gäbe keine Frau in seinem Leben? Das ging Vanessa absolut nichts an, selbst wenn er in der letzten Zeit tatsächlich kaum so etwas wie ein Liebesleben gehabt hatte. Wobei kaum eine reichlich geschönte Formulierung war. Seit seiner Scheidung machte er einen Bogen um alles, was nach fester Beziehung roch, und da ihm das unverbindliche Herumvögeln schnell langweilig geworden war, lief bei ihm mittlerweile gar nichts mehr. Bis jetzt. Prompt beschleunigte sich seine Pulsfrequenz. Warum hatte er ausgerechnet diese Tessa zum Essen eingeladen? Was wollte er von ihr? Sicher, sie war eine tolle Frau, und Kathi war sofort auf sie geflogen, aber…
„He!“ Violeta stand unmittelbar vor ihm und piekte ihm den
Zeigefinger in die Brust. „Ich spreche mit dir!“ „Entschuldige! Was hast du gesagt?“ Daniel zwang sich, die Gedanken an Tessa beiseite zu schieben. „Ich sagte, ich habe Kuchen geholt.“ Ohne Scheu griff Violeta nach seiner Hand. „Und jetzt komm endlich mit rüber, bevor die Mädchen alles an Pluto verfüttern.“
Kapitel 3.6
„… hat mir Henri, als er Ibiza verließ, viele seiner Werke überlassen“, beendete Anna ihre Ausführungen. Sie wies auf ein winziges, aus Natursteinen erbautes Haus, das am Ende eines mit Wildblumen und gelben Kleeblüten überwucherten Feldes lag. Unweit dahinter erhob sich ein bewaldeter Hügel.
„Das dort war sein Atelier.”
„Hübsch“, entgegnete Tessa abwesend. Als sie sich dem Häuschen näherten, schlug ihnen der Geruch von feuchter Farbe entgegen.
„Hier hat es vor kurzem gebrannt“, erklärte Anna, „wahrscheinlich ausgelöst durch Funkenflug. Obwohl niemand weiß, wie das überhaupt passieren konnte. Kein Gärtner zündet einen Scheiterhaufen mit Grünschnitt an, ohne vorher die Windrichtung zu prüfen. Gott sei Dank hat ein Nachbar das Feuer relativ früh bemerkt, deshalb hielt sich der Schaden in Grenzen.“ Mit einer fahrigen Geste befühlte sie das Pflaster an ihrer Stirn. „Trotzdem hatten wir Glück, dass das Atelier nicht ausgebrannt ist.“
„Hm“, machte Tessa.
„Jedenfalls war Henri der zauberhafteste Mensch, den du dir nur vorstellen kannst.“ An der Tür des Ateliers blieb Anna stehen. Unter der frisch aufgetragenen Lasur roch man das verbrannte Holz. „Er hatte ein Herz, so groß wie ein Scheunentor und war begeisterungsfähig wie ein kleiner Junge.“
„Hm.“
„Das hier war früher ein Stall.“ Anna lachte. „Sogar nach dem Ausbau stank es eine Zeit lang noch nach Ziege, aber Henri hat sich nicht daran gestört. Er war dankbar, dass er hier wohnen und sich ungestört seiner Kunst widmen durfte.“
„Hm.“
„Sag mal, mein Kind“, halb tadelnd, halb belustigt sah Anna Tessa an, „hörst du mir überhaupt zu?“ „Was?“ Tessa fühlte sich ertappt. „Doch, natürlich höre ich dir zu. Ich war nur kurz abgelenkt.“
In Wahrheit hatte sie Schwierigkeiten, sich auf die Geschichten der alte Dame zu konzentrieren, denn ihr schwirrte der attraktive Portraitmaler im Kopf herum. Bereits auf dem Rückweg vom Strand hatte sie sich dabei ertappt, wie sie immer wieder seinen Namen vor sich hin flüsterte: Antonio. Antonio…
„Aber sieh selbst!“ Anna schlüpfte durch die Tür. Ihre nächsten Worte drangen gedämpft aus dem Dunkel des Ateliers: „Es wäre ein unersetzbarer Verlust gewesen, wenn das Feuer all das hier zerstört hätte!“ Sie schob einen schweren Samtvorhang
beiseite, und durch ein bodentiefes Sprossenfenster flutete das Tageslicht herein. Sofort erkannte Tessa, dass sie mit dem Atelier ein weiteres Museum betrat, in dem Anna Berg die Vergangenheit zu konservieren suchte. Nichts wies mehr auf einen Brandschaden hin. Der Raum mit seiner niedrigen Balkendecke war makellos sauber. Er erweckte den Anschein, als sei sein Bewohner lediglich Zigaretten holen gegangen und würde jeden Moment zurückkehren. Das antike Messingbett in der Ecke war ordentlich bezogen, und auf dem Nachtschränkchen wartete ein Stapel vergilbter Bücher darauf, gelesen zu werden. Über der Lehne eines einzelnen Stuhls hing ein grauer Wollpullover. Vasen mit frischen Rosen zierten die Bretterkiste, die Henri Baffour als Tisch gedient hatte und teilten sich ein Regal mit Stapeln zerlesener Zeitschriften. Ihr schwerer Duft erfüllte das Zimmer. In der Nähe des Fensters stand eine mit einem Tuch verhängte Staffelei, auf einem Schemel daneben ein Glas mit Pinseln, sowie eine Palette eingetrockneter Farben. Hinter einer schmalen Tür verbarg sich ein kleines, blitzblank poliertes Badezimmer mit einer löwenfüßigen Sitzbadewanne, über der ein altmodischer Duschkopf montiert war. Das einzig sichtbare Zugeständnis an moderne Zeiten stellte ein elektrischer Luftentfeuchter dar, der leise brummend seinen Dienst verrichtete; vermutlich um die zahlreichen Leinwände zu schützen, die mit der Rückseite nach vorn an den geweißten Wänden lehnten.
„Es ist alles noch genau so, wie Henri es verlassen hat.“ Anna drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. „Irgendwie habe ich immer erwartet, dass er eines Tages zurückkommt.“ Versonnen nahm sie den Pullover von der Stuhllehne und schmiegte ihre Wange an die farbbekleckste graue Wolle. „Aber jetzt ist er tot.“ Tessa schwieg. Sie war zu aufgekratzt, um sich auf die melancholische Stimmung ihrer Gastgeberin einzulassen.
„Willst du dir die Bilder nicht ansehen?“, erkundigte sich diese.
„Hm, was?“ Verlegen schob sich Tessa eine Haarsträhne hinters
Ohr. „Doch, natürlich.“ Bei ihrem Rundgang durch Can Cantante Alemán hatte Anna sie bereits auf einige Werke Baffours aufmerksam gemacht, die im Haus verteilt hingen. Es handelte sich überwiegend um Motive der Insel; Landschaften, Bauernhäuser, Ansichten der Burg.
Obwohl Tessa nicht viel davon verstand, hatten ihr die Bilder gefallen, weil sie von warmen Farben lebten, einem liebevollen Strich und dem Spiel mit Licht und Schatten. Umso mehr staunte sie, als sie nun begann, die Leinwandstapel im Atelier durchzublättern. Eine brutale Düsternis ging von ihnen aus, eine Aura der Angst, Wut und Verzweiflung.
„Die sollen vom selben Künstler stammen?“
„Henri war ungeheuer vielseitig.“ Anna wandte sich ab und trat ans Fenster. „Mit dem abstrakten Stil, den du hier siehst, ist er später berühmt geworden. Diese Gemälde sind heute sehr, sehr wertvoll. Viel wertvoller als die im Haus!“
Ungläubig verzog Tessa das Gesicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand seine Wohnung freiwillig mit einem dieser bildgewordenen Schmerzensschreie verschandelte.
„Da ist der gute Mann wohl auf einem LSD-Trip hängengeblieben“, witzelte sie, um ihr Unbehagen abzuschütteln und hielt eine der Leinwände hoch, auf der sich ein menschlicher Torso mit grotesk abgespreizten Gliedmaßen erkennen ließ. Dickflüssig aufgetragene dunkelrote Farbspritzer erweckte den Anschein, als habe jemand geronnenes Blut darüber gespuckt. „Entschuldige bitte, aber die sind wirklich scheußlich!“ Tessa stellte das Bild zurück an seinen Platz. „Du musst wissen, dass sich Henri in seinem letzten Jahr auf Ibiza sehr verändert hat“, bemerkte Anna. Ihr Tonfall verriet, dass sie auf eine Frage hoffte, doch Tessa hatte kein Interesse.
Sie konnte nicht aufhören, an Antonio zu denken. An seine Stimme, die stets ein wenig heiser und gehetzt klang… Die ausgeprägte Linie seiner Wangenknochen… Seine sinnlichen Lippen… Seine Künstlerhände, die für sinnliche Berührungen wie geschaffen schienen… Tessa erschauerte. Und doch ahnte sie, dass die Anziehung, die der junge Maler auf sie ausübte, weniger auf äußerlichen Attributen, als mehr auf seiner Ausstrahlung beruhte. Jener aufregenden Mischung aus Schwermut und unterschwelligem Zorn, hinter der sie eine große Empfindsamkeit zu spüren glaubte.
Als er ihr ein paar Stunden zuvor am Strand bei einem café con leche gegenübergesessen hatte, war es ihr zunächst kaum gelungen, dem Blick seiner dunklen Augen standzuhalten. Er schien ihren gesamten Körper in Aufruhr zu versetzen, und sie sagte sich, dass er genau das war, was sie jetzt als Ablenkung von ihren Problemen brauchte. Um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, erkundigte sie sich nach seiner Arbeit und erfuhr, dass Antonio neben den Karikaturen auch fotorealistische Portraits auf Bestellung anfertigte. „Es ist ein beschissener Job“, knurrte er, „und ich hasse ihn! Aber er bezahlt meine Miete, bis ich mir mit meiner wahren Kunst einen Namen gemacht habe.“
Hinter seinen Worten lauerte eine Leidenschaft die Tessa gleichermaßen verstörte wie erregte. Sie fragte sich, was er malte, wenn es nicht seinem Lebensunterhalt dienen musste. Ob seine Arbeiten ähnlich viel von den Abgründen seiner Seele preisgaben, wie es bei Henri Baffour der Fall gewesen zu sein schien? Inzwischen war Anna an die verhüllte Staffelei getreten. Ihre Stimme klang aufgeregt wie die eines jungen Mädchens, das es nicht erwarten kann, seiner Freundin ein Geheimnis anzuvertrauen: „Hier ist noch etwas, das ich dir zeigen möchte“, erklärte sie und zögerte einen Moment, als wolle sie die Spannung steigern. Dann zog sie mit großer Geste das Tuch beiseite. „Wie gesagt, Henri war sehr vielseitig.“ Tessa sperrte überrascht den Mund auf.
„Oh!“, entfuhr es ihr, „Bist du das?“
„Aber ja.“ Anna kicherte. „Ich konnte mich sehen lassen, findest du nicht?“
„Allerdings!“ Tessas Blick flog über den weiblichen Akt, der unzweifelhaft Anna Berg in jungen Jahren darstellte. Anmutig saß sie auf einer Schaukel unter einem Feigenbaum, den Schoß ein wenig seitlich gedreht, die kleinen, runden Brüste dem Betrachter zugewandt. Einzelne Lichtreflexe brachen sich in den Silberkettchen um ihre schmalen Fesseln, verliehen ihrer Haut einen lebendigen Schimmer und ließen ihre Augen überirdisch leuchten. Auf ihrem Gesicht lag ein entrückter Ausdruck. Die Enden des weißen Seidenschals, den sie wie ein Stirnband um ihre blonden Locken gewunden hatte, tanzten durch die Luft. Der Eindruck war so bildhaft, dass Tessa die laue Brise zu spüren meinte, die den zarten Stoff verwehte.
„Es ist wunderschön“, bemerkte sie leise.
„Ich habe Henri dafür heimlich Modell gesessen, wann immer es sich einrichten ließ.“ Annas bandagierte Hand strich zärtlich die Kante der Leinwand entlang. „Dieser Akt sollte ein Geschenk zu Brunos fünfunddreißigstem Geburtstag sein.“
„Ach, tatsächlich?“ Tessa lächelte. „Und ich dachte, der Maler war verknallt in dich.“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil in meinen Augen jeder Pinselstrich auf diesem Bild eine Liebeserklärung ist. Ich könnte schwören, dass es für Henri ziemlich schwierig war, dich nackt zu malen.“
„Du hast wirklich eine blühende Phantasie, mein Kind. Henri und ich waren gute Freunde!“ Hastig warf Anna das Tuch zurück über die Staffelei. „Lass uns gehen. Seit María diesen Fimmel mit den Rosen hat, bekomme ich hier drin immer Kopfschmerzen.“ Sie zog abrupt den samtenen Vorhang zu und rauschte aus dem Atelier. Tessa hob verblüfft die Augenbrauen. Witterte sie da eine heimliche Affäre? Auf einmal fand sie Henri Baffour gar nicht mehr langweilig.
Kapitel 3.7
Während die beiden Frauen ihren Rundgang über das Grundstück fortsetzten, rätselte Tessa, wie sich Annas große Liebe zu Bruno mit einer Liaison zwischen ihr und dem französischen Maler in Einklang bringen ließe. Gab es auf diesem ganzen verdammten Planeten denn kein Paar, bei dem nicht wenigstens Einer dem Anderen Hörner aufsetzte? Oder hatte Anna ihren Mann betrogen, weil der mit Ellen ins Bett gegangen war? Falls er mit Ellen ins Bett gegangen war. „Schau“, Anna blieb stehen, „das ist unser Obstgarten – Mangos, Avocados, Äpfel, Birnen, Orangen, Aprikosen, …“ Ihre Arme beschrieben einen weiten Bogen, der ihren Stolz verriet.
„Obwohl das Geheimnis unserer fruchtbaren roten Erde in ihrem hohen Eisengehalt liegt, ist es gar nicht so einfach, alle diese Sorten hier zu kultivieren. Aber mein Joan vollbringt wahre Wunder.“ Sie lächelte. „Der Gute ist nämlich nicht nur Gärtner, sondern auch ein Zauberer. Er spricht mit den Pflanzen, als wären es seine Kinder. Ich wette, er singt ihnen sogar etwas vor.“ Anna spähte durch das üppige Grün der Obstbäume. „Hast du Joan überhaupt schon kennen gelernt?“, wollte sie wissen.
Tessa versuchte vergeblich, sich den grimmigen Gärtner als Pflanzenflüsterer vorzustellen und lachte spöttisch. „Als Kennenlernen würde ich das nicht bezeichnen“, versetzte sie spitz, „Er ist mir ein paar Mal begegnet. Zum Beispiel heute Morgen – da hat er sich wie ein Spanner im Gebüsch am Pool versteckt und mich beim Schwimmen beobachtet.“
„Ach, deshalb brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, winkte Anna ab. „Joan passt lediglich genau auf, was auf dem Anwesen vor sich geht. Er ist mein Gärtner, Hausmeister und Schutzengel in Personalunion.“ Mit diesen Worten ergriff sie Tessas Ellenbogen, um sie in den Obstgarten zu dirigieren. Honigduft hing zwischen den Bäumen, und die Luft war erfüllt vom Summen unzähliger Bienen, die von Blüte zu Blüte taumelten. Doch Tessa hatte keinen Blick für die paradiesische Umgebung. Ihre Gedanken kreisten noch um den Gärtner:
„Wo hast du das Goldstück denn her?“, erkundigte sie sich wenig begeistert. „María sagte mir, Joan sei ein Inzestopfer.“
„Das stimmt.“ Anna nickte. „Ibiza ist klein, und wie in allen isoliert lebenden Gemeinschaften ist so was hier früher häufig vorgekommen. Joans Familie hielt ihn eingesperrt wie ein Tier, um der öffentlichen Schande zu entgehen. Ich habe ihm Arbeit und eine Unterkunft gegeben. Er lebt schon seit Jahren in einem ausgebauten Schuppen am anderen Ende des Grundstücks und ich hatte nie Anlass, meine Entscheidung zu bereuen.“
„Trotzdem, mir ist er unheimlich“, beharrte Tessa.
„Du solltest dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen“, verwies Anna sie bestimmt. „Joan mag einfach gestrickt sein, aber er ist ebenso liebenswert wie gutmütig! Komm mit, ich mache euch bekannt.“
Energisch schob sie Tessa vor sich her, bis der breite Rücken des Gärtners vor ihnen auftauchte. Er stand über ein junges Apfelbäumchen gebeugt, das er offenbar erst kürzlich eingepflanzt hatte, denn die Erdscholle zu seinen Füßen war frisch umgegraben und leuchtete in sattem Kupferrot. Erstaunlich behutsam ließ er die zarten Triebe durch seine Finger gleiten, während er vereinzelte Blattläuse davon abpflückte. Als er die beiden Frauen näher kommen hörte, richtete er sich auf und starrte ihnen mit stoischer Miene entgegen. Dennoch bemerkte Tessa, dass beim Anblick seiner Chefin in seinen Augen die Sonne aufging. Auch Anna verbarg ihre Zuneigung nicht: „Hallo Joan“, begrüßte sie ihn herzlich, „ich möchte dir meine Nichte aus Deutschland vorstellen.“
Er senkte den Kopf und stierte auf die erdverschmierten Kappen seiner Arbeitsstiefel, als habe er dort einen fremdartigen Käfer entdeckt. Anna blieb freundlich: „Gib Tessa die Hand, mein Junge“, bat sie, und der Gärtner tat wie ihm geheißen ohne aufzusehen.
„Guten Tag Joan.“ Tessa schüttelte die Pranke, die er ihr hinstreckte. Dann wischte sie sich unauffällig die Finger an ihrem Rock ab. Wegen der Blattläuse. „Ich wollte sowieso mit dir sprechen, mein Lieber.“ Anna reckte sich, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. „Es gab vorhin schon wieder einen Stromausfall, zum zweiten Mal in dieser Woche.“ Sie seufzte. „Ich fürchte, der Generator ist bald ganz hinüber.“ Joan runzelte die Stirn. Seine beinah kindliche Stimme stand in auffälligem Gegensatz zu seiner massigen Statur: „Werde überprüfen, Señora. Reparieren, wenn geht.“
Entweder war er zu faul oder zu unterbelichtet, um vernünftige Sätze zu bilden, überlegte Tessa. Es gab wohl tatsächlich keinen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Nachdem sie den Gärtner seiner Arbeit überlassen hatten, warf Tessa einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Sie wollte sich endlich den Sand aus den Haaren waschen und die Nägel lackieren. Ganz davon abgesehen, dass sie sich noch nicht entschieden hatte, was sie zu ihrer abendlichen Verabredung anziehen sollte. Am liebsten den neuen, rückenfreien Einteiler… Allerdings wurde es nach Sonnenuntergang noch ziemlich kühl. Vielleicht also besser den schwarzen Bleistiftrock und die Seidenbl–
„Tessa!“ Anna war stehengeblieben und sah sie vorwurfsvoll an. „Du hörst mir schon wieder nicht zu!“ Schuldbewusst hob Tessa beide Hände. „Du hast Recht, entschuldige. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist.“ „Wie heißt er denn?“, fragte Anna schmunzelnd.
„Wen meinst du?“ Tessa stellte sich dumm.
„Kindchen, du strahlst aus allen Knopflöchern und bist zerstreut wie eine Tüte Vogelfutter. Ich fress einen Besen, wenn da nicht ein Mann dahinter steckt.“
„Na ja … Vielleicht.“ Doch Anna ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
„Was heißt vielleicht? Hast du jemand kennen gelernt?“ Tessa seufzte stumm.
„Ja, ich habe jemand kennen gelernt“, bestätigte sie, „und ja, ich bin heute Abend verabredet. Zufrieden?“
„Nein. Aber ich muss wohl abwarten, bis du darüber sprechen willst.“ Ein verschmitzter Ausdruck trat in Annas Gesicht. „Oder wir tauschen. Du erzählst mir von deinem neuen Freund, und dafür erzähle ich dir etwas über mich.“
„Über dich und Henri?“
„Na ja … Vielleicht“, imitierte Anna Tessas Versuch, ihr auszuweichen, und beide lachten. Die alte Dame hakte sich bei Tessa ein: „Hast du Lust, zu deinem Rendezvous ein Kleid aus meiner Kollektion zu tragen?“
„Meinst du das ernst?“
„Ich würde mich freuen!“
In Annas Arbeitsraum reihten sich auf langen Kleiderstangen die Muster ihrer Entwürfe aneinander. Die blütenweißen Kreationen waren in ausgewählten Boutiquen, als auch auf den Hippie-Märkten der Insel nach wie vor gefragt. Überaus feminin, die Schnitte auf subtile Weise aufreizend, hatte Tessa sie am Vortag zwar aufrichtig bewundert, wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, ein solches Kleid selber zu tragen. „Glaubst du denn, so was steht mir?“ Sie zauderte. Anna zwinkerte ihr zu. „Du wirst wie eine Göttin aussehen.“
Kapitel 3.8
Josep Puyol Marís Magengeschwür führte einen wütenden Krallenhieb aus, und er zuckte zusammen, während er sich bemühte, eine gelassene Miene beizubehalten. Obgleich die Klimaanlage in seinem Amtszimmer auf vollen Touren lief, spürte er, wie sich unter seinem Hemdkragen der Schweiß sammelte. „Nun, mein lieber Freund, was gibt es denn so Dringendes, dass Sie es nicht mal für nötig befunden haben, einen Termin zu vereinbaren?“, erkundigte er sich in väterlicher Strenge, die seine Nervosität verbergen sollte. Nicht nur sein Magen sagte ihm, dass das unangemeldete Auftauchen des Journalisten Schwierigkeiten verhieß. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, nahm Daniel Lux auf dem Besucherstuhl Platz und sah den Bürgermeister an. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, doch sein Instinkt riet ihm zu einem Überraschungsangriff:
„Ich bin bei meinen Recherchen anlässlich der anstehenden Wahlen auf ein paar …“, Daniel zögerte, um den Effekt seiner Worte zu erhöhen, „Unregelmäßigkeiten gestoßen. Unregelmäßigkeiten, die Ihre Person betreffen, Señor Puyol.“
„Das überrascht mich nicht“, antwortete der Bürgermeister und inspizierte gelangweilt seine Fingernägel. Für eine Sekunde war Daniel der Wind aus den Segeln genommen. Du verschlagener Hund, dachte er. Puyol richtete sich auf und verschränkte die Hände auf der Schreibtischplatte.
„Bevor wir uns weiter unterhalten, möchte ich Ihnen eine Frage stellen, Señor Lux“, begann er, und seine Stimme troff vor Selbstgefälligkeit. „Haben Sie jemals eine Wahl um ein politisches Amt erlebt, die ohne Schlammschlacht vonstattengegangen wäre?“ Er fletschte die Zähne zu einem Lächeln. „Ich nicht. Und deshalb kann ich Ihnen versichern, dass eventuelle Unregelmäßigkeiten, wie Sie sie entdeckt zu haben glauben, jeder realen Grundlage entbehren.“
Daniel maß sein Gegenüber mit hartem Blick: „Ach? Dann bezeichnen Sie Beträge von mehreren Millionen Euro, die den Weg in Ihre Tasche, beziehungsweise auf ein Bankkonto in Andorra gefunden haben also als ned real?“
Puyols Kopf schnellte vor. „Was unterstellen Sie mir?“ „Sagen wir, es gibt Anlass, an Ihrem Anspruch auf den Sitz des Inselratspräsidenten zu zweifeln.“ Fasziniert beobachtete Daniel den Schweißtropfen, der dem Bürgermeister die Wange hinab rann. Die Sache lief besser, als er erwartet hatte.
Josep Puyol Marí zwang sich, logisch zu denken. Wie viel wusste Lux, und was führte er im Schilde? Zielte er darauf ab, sich seine journalistischen Sporen zurück zu verdienen, indem er die Karriere eines angesehenen Politikers ruinierte? Glaubte er womöglich, das Wissen um Gerechtigkeit für sich gepachtet zu haben? Oder – fast hätte Puyol laut gelacht – wollte der Kerl ihn etwa erpressen? Wie auch immer, es schien unumgänglich, diesem Schreiberling ein wenig Respekt beizubringen.
„Ich bin natürlich längst darüber informiert, dass Sie sich für meine Angelegenheiten interessieren“, erklärte er kühl. „Grund genug, auch ein paar Erkundigungen über Sie einzuziehen.“
Daniel nickte. Damit hatte er gerechnet. Wenn die Mächtigen der Insel es so wollten, gelang es hier nicht einmal dem Dorfpfarrer, die Farbe seiner Unterhosen geheim zu halten.
„Sie sind ein ausgezeichneter Journalist“, fuhr Puyol fort, „Ansehnliche Karriere in Deutschland bei verschiedenen großen Tageszeitungen. Nach der Scheidung von Ihrer Frau Vanessa und Sorgerechtsstreitigkeiten um Ihre Tochter Katharina folgte der Ausstieg nach Ibiza. Sie schreiben in Festanstellung für ein deutschsprachiges Inselmagazin; einer, was Prestige und Aufstiegschancen anbelangt, vollkommen irrelevanten Publikation.“ Der Bürgermeister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.
„Mit gelegentlichen Übersetzungsarbeiten erzielen Sie Nebeneinkünfte, von denen das Finanzamt nichts erfährt. Unauffälliges Privatleben. Keine feste Beziehung. Kaum Frauenbekanntschaften. Abgesehen von Ihrem Hund und den gelegentlichen Besuchen Ihrer Tochter leben Sie allein auf dem Land in einem hübschen Häuschen mit zwei Schlafzimmern und eigenem Garten.“ Er bedachte Daniel mit einem gönnerhaften Nicken. „Gratuliere. So ein Mietobjekt zu einem bezahlbaren Preis zu finden, ist auf Ibiza inzwischen weniger wahrscheinlich als ein Sechser im Lotto.“ Puyol hielt inne und leckte sich genüsslich die Lippen. „Ihre Pläne, eine Immobilie zu erwerben, um sie in ein Hotel umzuwandeln, sind trotz einiger Ersparnisse, die Sie als Eigenkapital einbringen wollen, bisher daran gescheitert, dass mehrere Banken – darunter auch ein Unternehmen, das sich im Besitz meiner Familie befindet – Ihre Kreditanträge abgelehnt haben.“
Daniel nickte erneut. Er hätte ein Idiot sein müssen, um die Drohung hinter den Worten des Politikers nicht zu erkennen. Sollte er seine Trümpfe falsch ausspielen, würde der Mann ihn vernichten, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Sagen Sie mir, Señor Lux, wie lange leben Sie nun schon auf unserer schönen Insel?“, fragte Puyol.
„Ein paar Jahre. Aber ich vermute, des is’ Ihnen bereits bekannt“, gab Daniel wachsam zurück.
„O ja, Ibiza ist nach wie vor ein Magnet für Menschen aus aller Welt. Obwohl die Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sind.“ Der Bürgermeister ließ seine Worte einen Augenblick in der Luft hängen, bevor er sich vertraulich über den Tisch beugte: „Bei Ihren monatlichen Belastungen ist das sicher nicht einfach für Sie. Ihr Arbeitgeber bezahlt schließlich kaum mehr als den Mindestlohn. Wie wollen Sie es so jemals zu einem eigenen Hotel bringen?“
Daniel schluckte. Unten auf der Straße fuhr mit heulendem Martinshorn ein Krankenwagen vorbei. Das Geräusch ließ die Fensterscheiben klirren. Josep Puyol Marí wartete, bis wieder Stille eingekehrt war. Dann warf er Daniel einen gelassenen Blick zu: „Es gäbe da eine durchaus … reale Möglichkeit, unserer Unterhaltung eine andere Richtung zu geben.“
„Ach ja? Und wie sollte die aussehen?“
„Ganz einfach, Señor Lux.“ Der Bürgermeister verschränkte die Hände über dem Bauch wie ein zufriedener Buddha. „Sie helfen mir. Ich helfe Ihnen. Mit einer solchen Allianz wäre uns beiden gedient.“
Daniel schlug das Herz hart gegen die Rippen. „Ich höre”, sagte er. Die Sache lief viel besser, als er erwartet hatte!
Kapitel 3.9
Das Hafenviertel summte wie ein Bienenstock, und auch Antonio, der Maler, profitierte davon, dass die Saison langsam in Schwung kam. Heute hatte ihm die Flaniermeile zwei Pärchen vor die Füße gespuckt, die sich von ihm verewigen lassen wollten. Das bedeutete vier Einzelportraits und brachte viel Geld.
Dennoch war es nicht genug. Es war nie genug, um ihn für diesen verhassten Job zu entschädigen! Wie so oft fragte sich Antonio, warum er den Mist überhaupt noch machte.
Widerwillig taxierte er den Mann, der auf dem Campingstuhl vor seiner Staffelei Platz genommen hatte: Engstehende Augen, fliehendes Kinn … Ein Gesicht wie ein Frettchen, beschloss er. Als Karikaturist auf einen imaginären Zoo zurückzugreifen, vereinfachte Antonios Arbeit ungemein. In der langnasigen Freundin des Frettchens, die hinter dem Stuhl Stellung bezogen hatte, erkannte er sofort einen Windhund, die zweite der Frauen erinnerte ihn an eine traurige Kuh. Ihr Begleiter wiederum würde seine Ähnlichkeit mit einem Gorilla auf dem Papier wiederfinden. Während die Kreide in seinen Fingern beinahe wie von selbst über den Zeichenblock flog, hätte Antonio sich ohrfeigen können. Es war dumm gewesen, die Leute nicht wegzuschicken. Sie durchkreuzten seinen Plan, an diesem Abend früher Schluss zu machen. Er schnaubte gereizt, und das Frettchen zuckte zusammen.
„Still sitzen!“, befahl Antonio.
Als er versuchte, sich den weiteren Verlauf der Nacht vorzustellen, spürte er, wie nervös er war. Obgleich es ihm nicht ähnlich sah, sich von einer Frau aus der Ruhe bringen zu lassen, hatte diese Deutsche etwas an sich, das seine Eingeweide in Quecksilber verwandelte. Sie mochte eine Menge widersprüchlicher Gefühle in ihm wecken, aber er hatte augenblicklich gewusst, dass er sie wollte.
Selbstverständlich war es kein Problem gewesen, sie dazu zu bringen, sich mit ihm zu verabreden. Er kriegte sie alle. Er, der missratene Sohn, der seine Tage damit zubrachte, Autos zu knacken und Villen auszurauben … Er, der doppelzüngige Gigolo, der reiche, alte Frauen beschlief, damit sie ihn aushielten … Er, der gescheiterte Idealist, der sich durch seine Träume gekokst und diese damit um ein Haar zum Scheitern gebracht hatte …
Wenn Antonio sich zurückerinnerte, welch ein Versager er gewesen war, hätte er kotzen können. Aber er hatte sich gefangen, und das Licht am Ende des Tunnels war zum Greifen nah. Diesmal würde er es nicht vermasseln!
Mit einem Stück mausbrauner Kreide schraffierte er trotzig das Haar des Frettchens, als ihn plötzlich die Sorge überfiel, dass Tessa womöglich nicht auftauchen würde. Was, wenn sie gar kein Interesse daran hatte, ihn wiederzusehen, sondern nur zu
höflich gewesen war, ihm einen Korb zu geben? Antonios Hand verharrte sekundenlang über dem Papier, bevor es ihm gelang, seine Zweifel abzuschütteln. Bullshit! Die Frauen liebten ihn. Warum sollte ausgerechnet sie eine Ausnahme bilden?
Er dachte an den belebten Strand von Benirrás. An den Fliegenpilz-Sonnenschirm. Die Geldbörse in der Hand des Jungen. Und an Tessa. Ungeschminkt, verschwitzt und Sand verklebt hatte sie dennoch so unnahbar gewirkt, dass er vollkommen von ihr fasziniert gewesen war. In seiner Vorstellung schmeckte ihre Haut nach Pfefferminze, kühl und süß… Antonio konnte es kaum erwarten, sie zu kosten! Die
Tatsache, dass Tessa erheblich älter war als er, machte sie nur noch attraktiver. Junge Frauen langweilten ihn.
Er legte gerade letzte Hand an Frettchens Konterfei, da bemerkte er sie. Sie stand bei den Schaulustigen, die seine Staffelei belagerten. Als ihre Blicke sich trafen, überlief ihn ein heißer Schauer. Sie ist gekommen! Am liebsten hätte Antonio einen Jubelschrei ausgestoßen, stattdessen musste er Tessa vertrösten:
„Komm um elf wieder“, bat er sie. „Vorher bin ich nicht mit der Arbeit fertig.“
Falls sie enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken: „Kein Problem.“ Sie nickte. „Dann sehen wir uns später.“ Antonios Augen folgten ihrer hochgewachsenen Gestalt in dem weißen Kleid, und er überlegte, ob sie sich eigens für ihn so schön gemacht hatte. Der Fummel war zu verführerisch, um ohne Hintergedanken ausgewählt zu sein, und sie trug eindeutig keinen BH. Eine Feststellung, auf die sein Körper sofort und unmissverständlich reagierte.
Scheiße! Er bekam schon einen Ständer, wenn er bloß daran dachte, diese Frau zu küssen.
Kapitel 3.10
Tessa spazierte lächelnd den Hafen entlang. Sie kam sich vor wie ein verliebter Teenager! Dort, wo Antonios Lippen beim Sprechen wie zufällig ihr Ohr gestreift hatten, kribbelte die Haut. Der Maler war jung, er sah atemberaubend gut aus, und er rief ein Verlangen nach Leichtsinn in ihr wach, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie wollte Sex mit ihm. Unbedingt!! Er sollte die Schmerztablette sein, die ihr über Richard hinweghalf!
Während sie den Platz überquerte, auf dem die Verkaufsstände der fliegenden Händler aufgebaut waren, wanderte ihr Blick immer wieder zum Mond hinauf, der als leuchtendes Rund über dem Meer hing. Vollmond… Das Öl in den Flammen der Unvernunft! Tessas Lächeln wurde noch breiter. Mutwillig schüttelte sie ihr Haar zurück, das sie ausnahmsweise offen trug, und bemerkte, wie ein wildfremder Mann ihr eine Kusshand zuwarf. Nein, es liegt nicht nur am Mond, sagte sie sich, es ist auch das Kleid!
Entgegen ihrer anfänglichen Skepsis musste sie zugeben, dass Anna eine perfekte Wahl getroffen hatte. Das seidige Material umschmeichelte ihren Körper, Einsätze aus filigraner Spitze ließen ihre leicht gebräunte Haut blitzen. Anfangs war sie sich wie verkleidet vorgekommen, hatte jedoch erstaunlich schnell Gefallen an dem sinnlichen Geschöpf gefunden, das ihr aus dem Spiegel entgegen sah. Sie fühlte sich so jung und attraktiv wie lange nicht.
„Hola guapa, cómo va?“ In der Gasse, die das Herz La Marinas bildete, wimmelte es von Schleppern, deren Job darin bestand, Gäste in die umliegenden Bars zu locken: „Do you speak English?“ „Bei uns geht der zweite Drink aufs Haus!“ „Aquí hay tickets de fiesta!“ Wie ein Hornissenschwarm fielen sie über Tessa her, aber anstatt genervt zu reagieren, winkte sie lachend ab und schlängelte sich mitten hindurch. So leicht war ihre Hochstimmung nicht zu erschüttern.
„Moin, Prinzessin!“Auf einmal stand Manfred vor ihr, der Kneipier mit Vorliebe für Rüschenhemden und enge Jeans.
„Wie schön, dass Sie mich besuchen!“, rief er strahlend und unterbrach damit ihren Slalomlauf. „Setzen Sie sich. Ich geb’ Einen aus!“ Bevor es Tessa gelang, Einwand zu erheben, hatte er sie auf einen Barhocker genötigt, ihr ein Glas Sekt in die Hand
gedrückt und neben ihr Stellung bezogen. Die Terrasse seiner Bar war gut besucht, aber da heute eine hübsche Kellnerin zwischen den Tischen herumwieselte, konnte Manfred Tessa seine volle Aufmerksamkeit widmen.
„Sie sehen zum Anbeißen aus Prinzessin“, schmachtete er und kam ihr so nah, als wolle er ihr wahrhaftig die Zähne in den Hals schlagen.
„Und Sie sind anscheinend kurzsichtig.“ Energisch schob sie ihn von sich. Er grinste.
„Wie geht’s der kleinen Anna?“, fragte er, ohne zu ahnen dass seine Worte auf Tessa wie eine kalte Dusche wirkten. Ausgerechnet an diesem Abend wollte sie nicht an Anna Bergs verhängnisvollen Ausflug an die Steilküste erinnert werden.
„Meine Tante ist wieder zuhause und erholt sich gut“, entgegnete sie knapp.
„Verrückte Sache.“ Manfred zwirbelte genüsslich seinen Schnurrbart. „Wie Sie sich denken können, kursieren auf der Insel die wildesten Gerüchte.“
„Gerede gibt es immer“, antwortete Tessa und trank einen Schluck Sekt. Die Säure brannte ihr in der Kehle.
„Das mag sein, Prinzessin, aber ein Körnchen Wahrheit steckt meistens doch drin.“ Wieder trat Manfred so dicht an sie heran, dass kein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte und senkte die Stimme: „Sagt Ihnen der Name Josep Puyol Marí etwas?“ Sie lehnte sich so weit zurück, wie ihr Barhocker es zuließ.
Bestimmt war Manfreds Moschusparfüm Schuld, dass ihr plötzlich ein wenig übel wurde. „Worauf wollen Sie hinaus?“
Er rollte bedeutungsvoll die Augen. Sein geheimnisvolles Getue ärgerte Tessa. „Du meine Güte“, schnappte sie, „muss ich erst irgendwo eine Münze einwerfen, damit Sie Ihre Geschichte erzählen? Nun spucken Sie’s schon aus!“
„Rrrrrrrr!“, Manfred tat, als gäben ihm die Knie nach, „Ich mag es, wenn Frauen streng sind! Da werd’ ich ganz schwach.“ Er grinste erneut, und Tessa musste gegen ihren Willen lachen.
„Also“, erklärte er, „es gibt drei Theorien über den angeblichen Unfall Ihrer Tante. Erstens: Sie ist wirklich gestürzt. Wenig glaubhaft, wenn Sie mich fragen.“ Mit einer lässigen Handbewegung wischte er diese Möglichkeit beiseite.
„Zweitens: Sie wollte sich selbst aus dem Leben befördern, um endlich mit ihrem Bruno auf einem Wölkchen zu sitzen. Das wäre schon eher vorstellbar, wenn man bedenkt, dass sie seit seinem Tod keinen anderen Kerl mehr angeschaut hat.“
Bedauernd schüttelte Manfred den Kopf. „Mein Typ war die kleine Anna ja nie, aber–“
„Und was ist die dritte Theorie?“, unterbrach ihn Tessa, obgleich sie die Antwort bereits ahnte.
„Mord!“ Er ließ das Wort explodieren wie einen Knallfrosch, bevor er sich verbesserte: „Versuchter Mord, meine ich natürlich.“
„Ja, ja.“ Tessa nickte gereizt. „Angeblich verübt von dem Politiker Josep Puyol Marí, der auch Bruno auf dem Gewissen haben soll.“
„Wie, das wissen Sie schon?“ Manfred machte ein langes Gesicht.
„Anna erwähnte so was.“
„Dann kennen Sie auch die Hintergründe?“
„Nein, mehr hat sie nicht gesagt.“
„Kein Wunder!“ Er schnaubte vernehmlich. „Für Ihre Tante muss die ganze Sache wie ein schlechter Drogentrip gewesen sein, von dem sie nie mehr runter gekommen ist.“
„Was wissen Sie denn darüber?“
„Na, zum Beispiel weiß ich, warum Anna es nie drauf angelegt hat, Puyol vor Gericht zu bringen.“
„Ach?!“ Tessas Interesse wuchs. „Und warum nicht?“ Manfred schürzte vielsagend die Lippen. „Weil sonst öffentlich geworden wäre, dass–“ Als seine Kellnerin ihm ein Zeichen gab, huschten seine Augen über die Terrasse, und er verstummte.
„Entschuldigen Sie, Prinzessin.“ Er warf sich in die Brust, dass der goldene Panther nur so hüpfte. „Grade sind ein paar wichtige Leute gekommen. Da muss ich mal kurz Männchen machen.“ Mit diesen Worten stiefelte er zu einem Tisch, an dem sich ein paar Typen in Lederjacken niedergelassen hatten, auf denen das Emblem einer berüchtigten Rockerbande prangte. Unter lautem Hallo zogen sie ihm einen Stuhl heran.
Werbepause, konstatierte Tessa sarkastisch und nippte an ihrem Sekt. Während sie unruhig auf die Rückkehr ihres Gastgebers wartete, versuchte sie, seine Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Ohne Zweifel war Manfred ein Schwätzer, der es liebte, sich aufzuplustern, aber falls er sich in diesem Fall an die Tatsachen hielt, wurde die Angelegenheit immer mysteriöser. Was hatte Anna damals vor der Öffentlichkeit geheim halten wollen? Ging es darum, diesen Puyol Marí zu schützen? Wohl kaum. Ungeduldig sah Tessa zu Manfreds Tisch hinüber. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und erschrak. Schon kurz nach Elf, hoffentlich dachte Antonio nicht, sie hätte ihn versetzt!
„Prinzessin! Wo wollen Sie denn hin?“ Kaum glitt Tessa von ihrem Hocker, sprang Manfred auf. „Wir haben doch unsere Unterhaltung noch gar nicht beendet.“ Er griff nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf.
„Ich muss gehen.“ Tessa wollte sich abwenden, aber er hielt sie fest. Die Typen in den Lederjacken feixten.
„Dann sollten wir uns ein anderes Mal treffen“, beharrte Manfred. Eine Woge seines Parfüms schwappte über Tessa hinweg als er raunte: „Ich muss Sie auf jeden Fall noch mal sehen.“
Abrupt entzog sie ihm ihre Hand. Der Wichtigtuer wollte sie also doch bloß anmachen.
„Natürlich, ein andermal.“ Sie lächelte ihn an wie einen lästigen Staubsaugervertreter. „Schönen Abend noch, und vielen Dank für den Sekt.“
Kapitel 3.11
Die Enttäuschung traf Tessa wie ein Schlag in den Magen, und sie blieb so abrupt stehen, dass die Passanten hinter ihr sie beinahe überrannt hätten: Nicht mal ein Kreidefleck erinnerte noch daran, dass hier vor kurzem Antonios Freiluft-Atelier aufgebaut gewesen war.
Mit hängenden Armen sah Tessa sich um und verfluchte Manfred, seinen Sekt und vor allem sich selber, weil sie nicht auf die Zeit geachtet hatte. Sie wollte sich gerade abwenden, da entdeckte sie auf einer Bank an der Hafenmole einen schwarz gekleideten Mann, der das Anlegemanöver eines kleinen Fährbootes zu beobachten schien. Als er immer wieder den Kopf drehte, um die flanierenden Menschen im Auge zu behalten, erkannte sie, geradezu lächerlich erleichtert, Antonio.
Er bemerkte sie und musterte sie abwartend. Obwohl Tessa sich zwang, tief durchzuatmen, zitterten ihr die Knie.
„Da bin ich ja froh“, sagte sie und ging auf ihn zu, „Ich dachte schon, du hättest dich in Luft aufgelöst.“ Antonio hob die dunklen Brauen: „Und ich dachte, ihr Deutschen wärt so pünktlich.“ Tessa wusste nicht, ob er sie aufzog oder ob der leise Unmut in
seiner Stimme echt war. „Es tut mir leid, ich wurde aufgehalten.“ Sie setzte sich in einigem Abstand neben ihn auf die Bank. „Wo ist denn dein kleiner Bauchladen hin verschwunden?“
„Eine Freundin von mir hat um die Ecke eine Boutique, in der ich meine Sachen unterstellen kann.“ Er sah Tessa auf eine Weise an, die sie nicht deuten konnte. „Vielleicht sollten wir dir dort noch schnell etwas anderes zum Anziehen besorgen.“
Sofort kehrte ihre Unsicherheit zurück. „Was stimmt denn nicht mit meinem Kleid?“, erkundigte sie sich spitz.
Antonio hob beschwichtigend die Hände: „Oh, es stimmt alles. Du siehst klasse aus.“ Sie entspannte sich ein wenig. „Aber?“, hakte sie nach. „Aber,“ er zuckte mit den Schultern, „für einen Motorradausflug bist du in diesem Kleid nicht besonders gut gerüstet.“
„Du fährst Motorrad?“ Tessa schluckte. Schon vor langer Zeit hatte sie sich geschworen, niemals auf auf eine dieser Höllenmaschinen zu steigen.
„Wird schon gehen,” hörte sie sich sagen, „ich bin schließlich nicht aus Zucker.“
„Na, wenn du meinst.“ Antonio stand auf. „Dann los!“ Kaum hatten sie die Stadt hinter sich gelassen, gab Antonio Gas. Tessa krallte sich an ihm fest und hätte um ein Haar gekreischt wie bei einer Fahrt auf der Achterbahn. Stattdessen sandte sie ein Stoßgebet gen Himmel.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Er musste brüllen, um das Röhren der schweren Cross-Maschine zu übertönen.
„Alles klar!“ schrie Tessa zurück. Soweit sie es beurteilen konnte, war Antonio ein sicherer Fahrer, der es nicht darauf anzulegen schien, sie mit waghalsigen Kunststückchen zu beeindrucken.
Da er darauf bestanden hatte, ihr seine Jacke zu überlassen, konnte sie durch den Stoff seines T-Shirts seine Muskeln und die Wärme seiner Haut spüren. Fast bedauerte sie, dass er so vorausschauend gewesen war, einen zweiten Helm für sie mitzubringen, denn sie hätte nichts dagegen gehabt, ihre Wange an seine Schulter zu schmiegen. „Kennst du Es Vedrá, den magischen Felsen?“ hatte er gefragt, als sie zu seinem Motorrad spazierten. „Da fahren wir hin. Das musst du gesehen haben.“
Tessas einzige Information zu dieser im Westen Ibizas vorgelagerten Felseninsel stammte aus ihrem Reiseführer. Sie hatte den Abschnitt nur überflogen, erinnerte sich aber, dass er von spurlos verschwundenen Schiffen, Ufo-Landungen und anderen mystischen Phänomenen handelte, die sich im Lauf der Jahrhunderte um und auf Es Vedrá zugetragen haben sollten.
Ein wenig spöttisch erwiderte sie: „Willst du mir etwa erzählen, dass an dem Spuk um diesen Felsen tatsächlich was dran ist?“ Doch Antonio war ernst geblieben: „Das muss jeder für sich entscheiden.“
Auf der nächtlichen Landstraße herrschte kaum Verkehr, und Tessa lernte schnell, sich in den Kurven eng an Antonios Rücken zu lehnen, um das Gleichgewicht der Maschine nicht zu gefährden. Die körperliche Nähe zu dem jungen Maler, in der noch keinerlei Selbstverständlichkeit lag, verwirrte und erregte sie, und vielleicht musste sie gerade deshalb plötzlich an Richard denken.
Es fiel ihr immer noch schwer zu begreifen, dass der Schlussstrich diesmal endgültig war. Dass Richard nie wieder auf seine umständliche Art die Brille abnehmen und sie küssen, dass sie nie wieder in seinen Armen liegen würde. Obwohl der Sex mit ihm nicht wirklich aufregend gewesen war, abgesehen vom allerersten Mal. Über Wochen, wenn nicht Monate hatte sich damals eine erotische Spannung zwischen ihnen aufgebaut, die ebenso prickelnd wie verboten war – bis sie schließlich eines Abends, in einem Akt wütender Leidenschaft, jede Moral über Bord geworfen hatten. Zu zweit allein in der Kanzlei um einen komplizierten Fall vorzubereiten, hatten sie kaum gewagt, sich anzusehen. Die Luft im Raum war geladen wie vor einem Sommergewitter, und jede zufällige Berührung ihrer Hände glich einem Griff in die Steckdose. Nie würde Tessa vergessen, wie Richard plötzlich mit einer einzigen unbeherrschten Bewegung sämtliche Akten vom Tisch gefegt hatte. Das Geräusch, mit dem die Ordnerrücken auf den Boden klatschten, klang wie ein Tusch: Vorhang auf für den dümmsten Fehler des Jahrhunderts! „Du machst mich verrückt!“ Mit einem Stöhnen riss er sie an sich. „Ich halte das keine Sekunde länger aus. Ich muss dich haben!“ Sie küssten sich so gierig, dass ihre Zähne aufeinander schlugen, während Richard die Nadeln aus Tessas aufgestecktem Haar nestelte, bis es ihr als wilde Mähne über den Rücken fiel. Er schob ihr den Rock hoch, zerrte ihren Slip herunter und öffnete seine Hose. Wie die Karnickel hatten sie es getrieben, gleich dort auf seinem Schreibtisch.
„Festhalten!“, rief Antonio, als er in einer scharfen Rechtskurve von der asphaltierten Straße in einen unbefestigten Weg einbog, „Wir sind gleich da.“ Ein mulmiges Gefühl stieg in Tessa auf. Sie war davon ausgegangen, dieser Aussichtspunkt sei ein touristisch stark frequentiertes Ziel, an dem es ein, wenn nicht gar mehrere Restaurants gab. Stattdessen schlingerten sie nun fernab jeglicher Zivilisation eine von staubigen Büschen gesäumte Schlaglochpiste entlang. Nicht der kleinste Lichtschein wies darauf hin, dass sich in der Nähe auch nur ein Haus befand.
Wie es schien, war sich Antonio seiner Sache sehr sicher, wenn er sie an einen derart abgelegenen Ort brachte. Hatte sie so deutlich ihre Bereitschaft signalisiert? Oder gehörte es auf Ibiza zum guten Ton, gleich am ersten Abend miteinander ins Bett zu gehen? Auf einmal wusste Tessa nicht mehr, was sie sich eigentlich von dieser Nacht erhoffte.
Antonio stellte den Motor ab und ließ die Maschine ausrollen. „Hier ist es“, verkündete er. „Das wollte ich dir zeigen.“ Er schaltete die Scheinwerfer aus, und Tessa erkannte, dass sie sich auf einer steinigen Hochebene befanden, die zum Meer hin steil abbrach. Unweit der Küste erhob sich das mächtige,
schroffe Felsmassiv der Insel Es Vedrá. Übergossen vom quecksilberfarbenen Mondlicht bot sie tatsächlich einen ehrfurchtgebietenden Anblick, aber Tessa war zu aufgeregt, um ihn würdigen zu können. „Was sagst du?“, forschte Antonio, während er ihr half, den Helm abzunehmen.
Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie den gezackten Felsen, dessen Höhe es laut Reiseführer mit der des Empire State Buildings aufnehmen konnte. „Ich finde, das Ding sieht aus wie ein riesiger Backenzahn“, bemerkte sie scherzhaft.
„Wie profan.“ Antonio trat an den Rand der Klippe. „Ich hätte dich für romantischer gehalten.“
Sie folgte ihm. Als sie in die Tiefe spähte, überfiel Tessa jäher Schwindel. Die Felswand fiel mindestens hundert Meter steil ab. Instinktiv suchte sie Halt an Antonios Schulter und lächelte schwach: „Anwälte betrachten die Welt wohl etwas sachlicher als Künstler“, erklärte sie. „Ich fürchte, ich bin nicht besonders empfänglich für den Mythos eures magischen Felsens.“
„Lass dich überraschen.“ Wie so oft verriet Antonios Blick nichts von dem, was in ihm vorging. „Immerhin ist wissenschaftlich erwiesen, dass an diesem Ort die Erdstrahlung stark erhöht ist.“
„Und was bedeutet das?“
„Schließ deine Augen“, befahl er.
„Warum soll ich–“
„Mach sie einfach zu.“
Tessa folgte seiner Aufforderung, und einige Sekunden lang geschah nichts.
To be continued….
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